Viele türkische Künstler, Journalisten und Intellektuelle befinden sich in einem Dilemma, das durch die lauten Schlachtrufe der AKP, die Demokratie hätte gesiegt, nicht einfacher wird. Soll man dieser gewählten Partei grundsätzlich die Gefolgschaft verweigern, so wie es einige Vertreter der akademischen Linken getan haben? Oder ist man besser damit beraten, zumindest den Versuch der AKP zu würdigen, den Islam und die Demokratie miteinander auszusöhnen?
Türkisches TagebuchYavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt er einen täglichen Gastbeitrag. Deutsch von Jörg Häntzschel.
Viele von uns finden, es gebe keine moralische Grundlage, sich dem Kurs der AKP völlig zu verweigern. Sehr viele Menschen haben diese Partei gewählt, was unter linken wie rechten Intellektuellen zu dem Konsens geführt hat, Erdoğan & Co zumindest eine Chance zu geben, bevor man sich gegen sie stellt.
Leider mussten wir in den letzten Jahren beobachten, dass dieses Zugeständnis vollkommen nutzlos war. Von der Demokratie sind wir so weit entfernt wie nie zuvor. Die intellektuelle Elite hat eine herbe Niederlage einstecken müssen. Bleibt nur zu hoffen, dass diese zumindest als Weckruf für die säkulare Mittelklasse dient. Hoffentlich wird die große Mehrheit, die immer noch hinter Erdoğans Alleingang steht, bald aufwachen. Die Frage ist: Wird die Demokratie als Sieger aus dem blutigen Chaos vom 15. Juli hervorgehen - oder ein einzelner Politiker? Mit den unbegreiflichen Massenverhaftungen und den vielen Neubesetzungen wichtiger Posten wird der Mittelschicht hoffentlich endlich klar, dass sie betrogen worden ist.
"Ich habe nur gesagt, was ich denke"
Das zeigt auch das Beispiel der enorm populären Sängerin Sıla. Die 35-Jährige hat sich geweigert, an einer Parteikundgebung letzten Samstag in Istanbul teilzunehmen. Sie bezeichnete die Veranstaltung als "reine Show". Wegen dieser Äußerung wird jetzt eine regelrechte Hexenjagd auf sie veranstaltet. Sie wurde zum "Staatsfeind" erklärt, Konzerte wurden verboten, "besorgte Bürger" haben sie angezeigt. Die Sängerin ist erschüttert: "Ich habe nur gesagt, was ich denke. Demokratie bedeutet für mich Respekt vor Andersdenkenden."
- "Jetzt droht eine eiserne Zeit" (I)
- "Der Türkei droht das Ende eines unabhängigen Journalismus" (II)
- "Wir haben es mit massiven 'Säuberungen' zu tun" (III)
- "Die Verhaftungswellen hören nicht auf" (IV)
- "Ausnahme ist kein Zustand" (V)
- "Erdoğan treibt die türkischen Eliten ins Ausland" (VI)
- "Die Hexenjagd hat begonnen" (VII)
- "Erdoğan regiert per Dekret - was das heißt, weiß in der Türkei jeder" (VIII)
- "Erdoğan vollzieht den 'zivilen Staatsstreich'" (IX)
- "Erdoğan begünstigt Manipulation und Desinformation" (X)
- "Schweigen ist jetzt der Feind der Demokratie" (XI)
- "Die Türkei nimmt Angehörige in Geiselhaft" (XII)
- "'Sie werden sterben wie Kanalratten'" (XIII)
- "Wo sind die AKP-Mitglieder, die am Putsch teilgenommen haben?" (XIV)
- "Italien sollte sich lieber um die eigene Mafia kümmern" (XV)
- "Warum man Erdoğan nicht trauen kann" (XVI)
- "Du bist als nächstes dran" (XVII)
- "Wir wollen Exekutionen" (XVIII)
- "Jeder ist verdächtig" (XIX)
- "Exodus der türkischen Elite" (XX)
- "Ist es ein Verbrechen, mit einem Reporter verheiratet zu sein?" (XXI)
- "Erdoğan hält die Massen in explosiver Hypnose" (XXII)
- "Es ist Zeit aufzuwachen" (XXIII)
- Türkische Chronik (I): Wie die AKP Verschwörungstheorien über den Putsch befeuert
- Enteignungen wie im Osmanischen Reich (II)
- Haftbefehl ohne Grund (III)
- Man muss die Dinge beim Namen nennen (IV)
- Die alten Foltermethoden sind zurück in der Türkei (V)
- "Man sollte uns unseren richtigen Job machen lassen" (VI)
- Türkei zieht Schrauben der Unterdrückung weiter an (VII)
- "Bedauerlich, dass wir Journalisten das Hauptthema der Nachrichten sind"(VIII)
- Erdoğan plant eine Islamisierung der Schulen (IX)
- Was geschah wirklich in der Nacht vom 15. Juli? (X)
- Die Türkei steht kurz vor einem Bürgerkrieg (XI)
- Wie lange wird die EU der schrecklichen Eskalation standhalten? (XII)
- Verhaftete türkische Journalisten sollten Ehrenbürger werden (XIII)
- Die Kurden verlieren ihre Heimat (XIV)
- Erdoğan fegt sie einfach weg (XV)
- Erdoğan und Trump - Die Zeichen stehen auf hässliche Realpolitik (XVI)
- War der Militärputsch vorhersehbar? (XVII)
- Demokratie in der Türkei - wenn alles zerrinnt (XVIII)
- Russland wird seine Chance nutzen (XIX)
- Das Jahr eines intensiven Albtraums (XX)
- Die AKP erntet, was sie gesät hat (XXI)
- Erdoğan nähert sich seinem Ziel (XXII)
- Der Todeskampf des türkischen Schulsystems (XXIII)
- Jazz war Aktionismus (XXIV)
- Scheidung - und dann? (XXV)
- Sie wollen alle Fremdkörper "entfernen" (XXVI)
- Das Land der Fäulnis (XXVII)
- Nur noch ein kurzer Weg zum Faschismus (XXVIII)
- Die Presse als erstes Angriffsziel (XXIX)
- Prozess als Farce (XXX)
- Die neuen Jungtürken aus Köln (XXXI)
- Berufsverbot für Akademiker (XXXII)
- Dinner mit den Underdogs (XXXIII)
- Das Bangen vor dem Referendum (XXXIV)
- Mit der Türkei, wie wir sie kennen, ist es vorbei (XXXV)
- Die Unterdrückten werden ihre innere Stärke wiederfinden (XXXVI)
- Man muss auf eine demokratische Alternative hoffen (XXXVII)
- Wie weit kann man die Grausamkeit noch treiben? (XXXVIII)
- Bücher in die Verbannung (XXXIX)
- Rechtfertigen Erdoğans Schikanen einen Hungerstreik? (XL)
- Wer gegen Erdoğan ist, muss hungern (XLI)
- Jetzt wurde auch noch ein UN-Richter verurteilt (XLII)
- Das Messer hat den Knochen getroffen (XLIII)
- "Es wird ein Tag kommen, an dem das Land explodiert" (XLIV)
- Die Türkei leidet an einem geistigen Ausnahmezustand (XLV)
- Was wir verloren haben, ist schwer wieder herzustellen (XLVI)
- Erdoğan ist das personifizierte Problem der Türkei (XLVII)
- Warum im Ausland lebende Türken an ihrer Liebe zu Erdoğan festhalten (XLVIII)
- Erdoğans neuer Staat naht (XLIX)
Merkt euch diesen Vorfall, er bedeutet nichts Gutes für die Türkei. Der einfache Bürger mag es sich vorerst leisten können, weiter seinem normalen Leben nachzugehen. Aber irgendwann werden die Menschen merken, dass ihr Land keine Stabilität mehr findet, weil sich zu wenige Menschen politisch engagieren. Und die, die es tun, werden längst in andere Länder geflohen sein.