Türkisches Tagebuch (XXI):Die türkische Presse ist ausgeliefert

Binali Yildirim, Premierminister Türkei

Der türkische Premier Binali Yıldırım kündigt im Parlament in Ankara Maßnahmen gegen das türkische Militär an.

(Foto: AP)

200 Journalisten wurde der Zugang zum türkischen Parlament verboten. Damit bestimmt der Staat, was und wie berichtet wird.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Zu den wichtigsten Aufgaben des Journalismus gehört in einer Demokratie die Parlamentsberichterstattung. Viele Journalistenschulen lehren eigens, wie man Haushaltsentwürfe dechiffriert und wie man politische Debatten ausgewogen wiedergibt.

Daran dachte ich, als ich am Mittwoch die E-Mail einer Kollegin aus Ankara las - und musste bitter lächeln. Sie hatte mir eine Nachricht aus der Gazete Duvar geschickt, nach der jetzt 200 Journalisten der Zugang zum Parlament verboten sei. Die Kontrollen an den Eingängen würden verschärft. Viele Reporter seien abgewiesen worden.

Türkisches Tagebuch

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt er einen täglichen Gastbeitrag. Deutsch von Jörg Häntzschel.

Der Vorwand dafür ist, dass die meisten von ihnen für Verlage und Sender arbeiteten, die seit dem Putschversuch geschlossen wurden oder unter staatliche Kontrolle kamen, weil sie angeblich der Gülen-Bewegung nahestanden. Für die Kollegen bedeuten diese Sanktionen nur eines: Die Presse ist dem Staat ausgeliefert. Er bestimmt, was und wie berichtet wird.

Viele regierungsfreundliche Journalisten stören sich nicht an den immer rigoroseren Einschränkungen. "Was zählt, ist die Demokratie", sagen sie. "Nur die Komplizen der Putschisten in den Medien sind betroffen, der Rest nicht." Doch die Tatsachen widerlegen das. Abgesehen von der Schließung von mehr als 100 Medienhäusern ist eine breit angelegte Kampagne gegen kurdische und linke Medien im Gang, alle natürlich regierungskritisch.

Gab es ein Agreement zwischen Ankara und Twitter?

Am Dienstagabend berichtete der pro-kurdische Sender IMC-TV, dass die Twitter-Accounts von drei wichtigen prokurdischen Medien gesperrt seien: der Zeitung Özgür Gündem und den Nachrichtenagenturen DIHA und ANF. Manche kurdische Kollegen glauben, dies seien Vorboten einer Militäroperation im Südosten des Landes. Ich sehe darin aber ein größeres Muster: In den letzten vier Tagen wurden viele Accounts kritischer Publikationen und einzelner Journalisten gesperrt. Gab es ein Agreement zwischen Ankara und Twitter? Bisher fehlt jede Erklärung.

Seit Tagen fragen sich viele, was aus Hacer Korucu geworden ist, über die ich hier am 6. August geschrieben habe. Ihr Mann, Bülent Korucu, früher Chefredakteur der Wochenzeitschrift Aksiyon und der Tageszeitung Yarına Bakış, wird von der Polizei unter anderem wegen "Unterstützung einer terroristischer Vereinigung" gesucht. Seine Frau wurde vor neun Tagen festgenommen. Ihr Sohn twitterte, die Polizei habe der Familie mitgeteilt, sie würde festgehalten, bis ihr Mann auftauche.

Die Plattform für unabhängigen Journalismus P 24 erfuhr nun den offiziellen Grund für Hacer Korucus Verhaftung. Sie habe an Aktivitäten der Gülen-Schulen und den Feierlichkeiten der "Türkischen Sprach-Olympiade" teilgenommen. Hacer Korucus Fall wird ohne Zweifel zu einem Symbol dafür werden, wie willkürlich die Justizbehörden in der Türkei agieren. Er ist ein Grund dafür, dass sich kein Bürger mehr sicher fühlt. "Sie ist Mutter von fünf Kindern", entfuhr es Rebecca Harms, einer deutschen Grünen-Abgeordneten im Europa-Parlament. "Ist es ein Verbrechen, mit einem Journalisten verheiratet zu sein?"

Der Ausnahmezustand gibt den Behörden also die Macht, Journalisten daran zu hindern, aus dem Zentrum der Demokratie zu berichten, dem Parlament. Und er erlaubt ihnen, Leid über Familien von Journalisten zu bringen. Gleichzeitig wird uns täglich vorgebetet, die Demokratie sei in jener schrecklichen Juli-Nacht vor einer Katastrophe "gerettet" worden. Wir sollen sie ehren und hochhalten. Doch wie soll das gehen, wenn wir nicht zugelassen sind?

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