Auge um Auge, Zahn um Zahn: So lässt sich die Atmosphäre in der Türkei am Beginn der vierten Woche nach dem Putschversuch beschreiben. Aufgehetzt von der Jagd nach angeblichen Putschisten und Oppositionellen, von wahllosen Razzien und den Säuberungsaktionen in den Institutionen, lässt der Mob nicht ab von seinen Rufen nach der Wiedereinführung der Todesstrafe. Auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan fordert sie weiterhin. Bei einer Kundgebung am Samstag fiel er lautstark in die Parolen der Todesstrafen-Befürworter ein - und beschimpfte den Westen.
Während der Platz von Sprechchören wie "Wir wollen Exekutionen!" widerhallte, rief Erdoğan: "Was will mein Volk? Die Todesstrafe! Das Parlament ist verpflichtet, sich damit zu befassen. Es darf die Stimme des Volks nicht ignorieren. Und das Europäische Parlament? Die EU? Sie sollen sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Die Verantwortlichen des Putsches müssen zahlen."
Etwa zur selben Zeit kehrte Hayko Bağdat, ein enger Freund und bekannter Fernsehmann, in die Türkei zurück, wo sofort sein Pass konfisziert wurde. Er twitterte: "Auf dem Flughafen in Istanbul. Polizei hat mich festgehalten, um meinen Pass einzukassieren. Keine Festnahme. Gott!" Sofort ging ein Schauder durch die sozialen Netze. Der 40-jährige Kollege, der liberale Positionen vertritt, war einer der Freunde des ermordeten Journalisten Hrant Dink. Wie er gehört er zur armenischen Gemeinschaft. Er wurde bekannt im prokurdischen IMC TV (wird nicht mehr ausgestrahlt) und schrieb für die unabhängige militärkritische Zeitung Taraf (eingestellt).
Er hat keine Ahnung, warum sein Pass beschlagnahmt wurde
Als ich am Sonntag mit Bağdat sprach, war er noch immer entsetzt und traurig. Er war aus Thessaloniki gekommen und hat keine Ahnung, warum sein Pass beschlagnahmt wurde. Der Grund sei wohl, dass er auf dem ebenfalls vom Bildschirm verschwundenen Sender Can Erzincan TV gemeinsam mit der Journalistin Nazlı Ilıcak moderiert habe. Sie ist seit zehn Tagen in Haft.
Welche Ausmaße die Hexenjagd inzwischen annimmt, dafür gibt es auch an den Universitäten neue Anzeichen. Am Samstag gab die Anadolu-Universität im nordwesttürkischen Eskişehir bekannt, dass 21 Dozenten und Professoren "beurlaubt" worden seien. Sie hatten eine Petition unterzeichnet, in der zum Frieden und zu neuen Gesprächen für die Beendigung der Kurdenaufstände aufgerufen wurde. Kein Wunder also, dass viele Intellektuelle jetzt an ein Leben und eine Karriere im Ausland denken.
Die große Frage ist auch, was in den Gefängnissen und Lagern geschieht, wo die Putschisten und Oppositionellen inhaftiert sind. Die linke Tageszeitung Birgün zitierte am Sonntag Anwälte mit den Worten, am Putsch beteiligte Soldaten im Gefängnis Silivri würden misshandelt. Sollte das zutreffen, würde es die von Amnesty International geäußerten Sorgen nähren, dass in der Türkei die Folter als Unterdrückungsmethode zurück ist.