Auge um Auge, Zahn um Zahn: So lässt sich die Atmosphäre in der Türkei am Beginn der vierten Woche nach dem Putschversuch beschreiben. Aufgehetzt von der Jagd nach angeblichen Putschisten und Oppositionellen, von wahllosen Razzien und den Säuberungsaktionen in den Institutionen, lässt der Mob nicht ab von seinen Rufen nach der Wiedereinführung der Todesstrafe. Auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan fordert sie weiterhin. Bei einer Kundgebung am Samstag fiel er lautstark in die Parolen der Todesstrafen-Befürworter ein - und beschimpfte den Westen.
Türkisches TagebuchYavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1958 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt er einen täglichen Gastbeitrag. Deutsch von Jörg Häntzschel.
Während der Platz von Sprechchören wie "Wir wollen Exekutionen!" widerhallte, rief Erdoğan: "Was will mein Volk? Die Todesstrafe! Das Parlament ist verpflichtet, sich damit zu befassen. Es darf die Stimme des Volks nicht ignorieren. Und das Europäische Parlament? Die EU? Sie sollen sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Die Verantwortlichen des Putsches müssen zahlen."
Etwa zur selben Zeit kehrte Hayko Bağdat, ein enger Freund und bekannter Fernsehmann, in die Türkei zurück, wo sofort sein Pass konfisziert wurde. Er twitterte: "Auf dem Flughafen in Istanbul. Polizei hat mich festgehalten, um meinen Pass einzukassieren. Keine Festnahme. Gott!" Sofort ging ein Schauder durch die sozialen Netze. Der 40-jährige Kollege, der liberale Positionen vertritt, war einer der Freunde des ermordeten Journalisten Hrant Dink. Wie er gehört er zur armenischen Gemeinschaft. Er wurde bekannt im prokurdischen IMC TV (wird nicht mehr ausgestrahlt) und schrieb für die unabhängige militärkritische Zeitung Taraf (eingestellt).
Er hat keine Ahnung, warum sein Pass beschlagnahmt wurde
Als ich am Sonntag mit Bağdat sprach, war er noch immer entsetzt und traurig. Er war aus Thessaloniki gekommen und hat keine Ahnung, warum sein Pass beschlagnahmt wurde. Der Grund sei wohl, dass er auf dem ebenfalls vom Bildschirm verschwundenen Sender Can Erzincan TV gemeinsam mit der Journalistin Nazlı Ilıcak moderiert habe. Sie ist seit zehn Tagen in Haft.
Welche Ausmaße die Hexenjagd inzwischen annimmt, dafür gibt es auch an den Universitäten neue Anzeichen. Am Samstag gab die Anadolu-Universität im nordwesttürkischen Eskişehir bekannt, dass 21 Dozenten und Professoren "beurlaubt" worden seien. Sie hatten eine Petition unterzeichnet, in der zum Frieden und zu neuen Gesprächen für die Beendigung der Kurdenaufstände aufgerufen wurde. Kein Wunder also, dass viele Intellektuelle jetzt an ein Leben und eine Karriere im Ausland denken.
Die große Frage ist auch, was in den Gefängnissen und Lagern geschieht, wo die Putschisten und Oppositionellen inhaftiert sind. Die linke Tageszeitung Birgün zitierte am Sonntag Anwälte mit den Worten, am Putsch beteiligte Soldaten im Gefängnis Silivri würden misshandelt. Sollte das zutreffen, würde es die von Amnesty International geäußerten Sorgen nähren, dass in der Türkei die Folter als Unterdrückungsmethode zurück ist.
- "Jetzt droht eine eiserne Zeit" (I)
- "Der Türkei droht das Ende eines unabhängigen Journalismus" (II)
- "Wir haben es mit massiven 'Säuberungen' zu tun" (III)
- "Die Verhaftungswellen hören nicht auf" (IV)
- "Ausnahme ist kein Zustand" (V)
- "Erdoğan treibt die türkischen Eliten ins Ausland" (VI)
- "Die Hexenjagd hat begonnen" (VII)
- "Erdoğan regiert per Dekret - was das heißt, weiß in der Türkei jeder" (VIII)
- "Erdoğan vollzieht den 'zivilen Staatsstreich'" (IX)
- "Erdoğan begünstigt Manipulation und Desinformation" (X)
- "Schweigen ist jetzt der Feind der Demokratie" (XI)
- "Die Türkei nimmt Angehörige in Geiselhaft" (XII)
- "'Sie werden sterben wie Kanalratten'" (XIII)
- "Wo sind die AKP-Mitglieder, die am Putsch teilgenommen haben?" (XIV)
- "Italien sollte sich lieber um die eigene Mafia kümmern" (XV)
- "Warum man Erdoğan nicht trauen kann" (XVI)
- "Du bist als nächstes dran" (XVII)
- "Wir wollen Exekutionen" (XVIII)
- "Jeder ist verdächtig" (XIX)
- "Exodus der türkischen Elite" (XX)
- "Ist es ein Verbrechen, mit einem Reporter verheiratet zu sein?" (XXI)
- "Erdoğan hält die Massen in explosiver Hypnose" (XXII)
- "Es ist Zeit aufzuwachen" (XXIII)
- Türkische Chronik (I): Wie die AKP Verschwörungstheorien über den Putsch befeuert
- Enteignungen wie im Osmanischen Reich (II)
- Haftbefehl ohne Grund (III)
- Man muss die Dinge beim Namen nennen (IV)
- Die alten Foltermethoden sind zurück in der Türkei (V)
- "Man sollte uns unseren richtigen Job machen lassen" (VI)
- Türkei zieht Schrauben der Unterdrückung weiter an (VII)
- "Bedauerlich, dass wir Journalisten das Hauptthema der Nachrichten sind"(VIII)
- Erdoğan plant eine Islamisierung der Schulen (IX)
- Was geschah wirklich in der Nacht vom 15. Juli? (X)
- Die Türkei steht kurz vor einem Bürgerkrieg (XI)
- Wie lange wird die EU der schrecklichen Eskalation standhalten? (XII)
- Verhaftete türkische Journalisten sollten Ehrenbürger werden (XIII)
- Die Kurden verlieren ihre Heimat (XIV)
- Erdoğan fegt sie einfach weg (XV)
- Erdoğan und Trump - Die Zeichen stehen auf hässliche Realpolitik (XVI)
- War der Militärputsch vorhersehbar? (XVII)
- Demokratie in der Türkei - wenn alles zerrinnt (XVIII)
- Russland wird seine Chance nutzen (XIX)
- Das Jahr eines intensiven Albtraums (XX)
- Die AKP erntet, was sie gesät hat (XXI)
- Erdoğan nähert sich seinem Ziel (XXII)
- Der Todeskampf des türkischen Schulsystems (XXIII)
- Jazz war Aktionismus (XXIV)
- Scheidung - und dann? (XXV)
- Sie wollen alle Fremdkörper "entfernen" (XXVI)
- Das Land der Fäulnis (XXVII)
- Nur noch ein kurzer Weg zum Faschismus (XXVIII)
- Die Presse als erstes Angriffsziel (XXIX)
- Prozess als Farce (XXX)
- Die neuen Jungtürken aus Köln (XXXI)
- Berufsverbot für Akademiker (XXXII)
- Dinner mit den Underdogs (XXXIII)
- Das Bangen vor dem Referendum (XXXIV)
- Mit der Türkei, wie wir sie kennen, ist es vorbei (XXXV)
- Die Unterdrückten werden ihre innere Stärke wiederfinden (XXXVI)
- Man muss auf eine demokratische Alternative hoffen (XXXVII)
- Wie weit kann man die Grausamkeit noch treiben? (XXXVIII)
- Bücher in die Verbannung (XXXIX)
- Rechtfertigen Erdoğans Schikanen einen Hungerstreik? (XL)
- Wer gegen Erdoğan ist, muss hungern (XLI)
- Jetzt wurde auch noch ein UN-Richter verurteilt (XLII)
- Das Messer hat den Knochen getroffen (XLIII)
- "Es wird ein Tag kommen, an dem das Land explodiert" (XLIV)
- Die Türkei leidet an einem geistigen Ausnahmezustand (XLV)
- Was wir verloren haben, ist schwer wieder herzustellen (XLVI)
- Erdoğan ist das personifizierte Problem der Türkei (XLVII)
- Warum im Ausland lebende Türken an ihrer Liebe zu Erdoğan festhalten (XLVIII)
- Erdoğans neuer Staat naht (XLIX)