Vielleicht ist es mein Fehler. Ich habe kein Verständnis mehr für die Naivität - manch einer mag es auch Wunschdenken nennen - jener Menschen, die behaupten, man müsse mit dem türkischen Erdoğan-Regime vernünftig diskutieren. Sie sagen das, ganz gleich, wie hart das Regierungslager gegen all seine Kritiker vorgeht.
Ich kenne Özlem Dalkıran seit einer Ewigkeit. Sie ist einer der gewissenhaftesten, humorvollsten Menschen, die ich in der Türkei kenne. Immer stand sie in der vordersten Reihe, wenn es darum ging, für Benachteiligte aufzustehen. Sie reihte sich bei denen ein, die mit Begeisterung uralte Tabus in der Türkei durchbrachen. Und sie war eine Freundin des vor zehn Jahren getöteten Hrant Dink - Dalkıran half der Familie bei ihrem Prozess. Kurzum: Wann immer es Ärger mit staatlicher Repression gab, war sie zur Stelle.
"Wie können sie ihr das nur antun", war die Frage, die ich von ihren Freunden hörte, nachdem sie mit neun anderen Menschenrechtsaktivisten verhaftet worden war. Der Ton änderte sich, als ihre Haft verlängert wurde. Plötzlich sagten Optimisten, es habe sich nur um ein Missverständnis gehandelt und ihre Freilassung stehe sicherlich kurz bevor. Ich traute meinen Ohren nicht. "Lebst du in einem anderen Universum?", fragte ich eine dieser Optimistinnen, der ich so nahe stehe, dass ich meine Fassungslosigkeit ihr gegenüber nicht kaschieren muss. "Kriegst du wirklich nicht mit, was für einem barbarischen Regime die Türkei ausgeliefert ist?!", fragte ich sie und versuchte ihr zu erklären, wie Stalin seine Schauprozesse inszenierte. Wie er jeden unliebsame Kritiker zum Staatsfeind erklären ließ.
Diese Gespräche enden meinerseits immer mit Kopfschütteln. Keine Chance, gegen diese Naivität anzudiskutieren. Es geht um gebildete, hochintelligente Menschen, die aber in diesem Aquarium der Brutalität völlig verloren sind. Sie glauben das, was sie aus Verzweiflung glauben möchten.
Einige Tage später kam die Entscheidung. Gleich nach dem Aufstehen musste ich erfahren, dass Özlem und fünf ihrer Aktivisten-Freunde nun offiziell in Untersuchungshaft sitzen. Zu den neuen Geiseln zählen auch der schwedische IT-Berater Ali Gharavi und natürlich der deutsche Peter Steudtner. Ein deutscher Vater von zwei Kindern befindet sich nun hinter Gittern, gemeinsam mit anderen Idealisten, die nur den Unterdrückten zu einem Leben in Würde verhelfen wollten. Sie alle wurden zu Geiseln. Zu Marionetten in einem dreckigen Kapitel internationaler Politik.
Kein Zufall ist auch, dass sie zu dem Zeitpunkt festgenommen wurden, als Kemal Kılıçdaroğlu, der Vorsitzende der Oppositionspartei CHP, kurz davor war, seinen 430 Kilometer langen "Protestmarsch für Gerechtigkeit" zu beenden. Die Festnahmen auf der Insel Büyükada waren ein Schlag ins Gesicht für die Opposition und alle G-20-Regierungsvertreter, die in Hamburg auf Erdoğan getroffen sind.