Türkisches Tagebuch (XLVI):So beginnt jeder Faschismus

Türkisches Tagebuch (XLVI): Tausende Erdoğan-Anhänger feiern den Jahrestag des vereitelten Putsches in Istanbul

Tausende Erdoğan-Anhänger feiern den Jahrestag des vereitelten Putsches in Istanbul

(Foto: AFP)

Erdoğan greift gezielt die an, die sich für Freiheit und Rechte einsetzen. Die größte Sorge unseres Autors ist deshalb, dass "alle Werte in der Türkei zu Müll werden".

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Vielleicht ist es mein Fehler. Ich habe kein Verständnis mehr für die Naivität - manch einer mag es auch Wunschdenken nennen - jener Menschen, die behaupten, man müsse mit dem türkischen Erdoğan-Regime vernünftig diskutieren. Sie sagen das, ganz gleich, wie hart das Regierungslager gegen all seine Kritiker vorgeht.

Ich kenne Özlem Dalkıran seit einer Ewigkeit. Sie ist einer der gewissenhaftesten, humorvollsten Menschen, die ich in der Türkei kenne. Immer stand sie in der vordersten Reihe, wenn es darum ging, für Benachteiligte aufzustehen. Sie reihte sich bei denen ein, die mit Begeisterung uralte Tabus in der Türkei durchbrachen. Und sie war eine Freundin des vor zehn Jahren getöteten Hrant Dink - Dalkıran half der Familie bei ihrem Prozess. Kurzum: Wann immer es Ärger mit staatlicher Repression gab, war sie zur Stelle.

"Wie können sie ihr das nur antun", war die Frage, die ich von ihren Freunden hörte, nachdem sie mit neun anderen Menschenrechtsaktivisten verhaftet worden war. Der Ton änderte sich, als ihre Haft verlängert wurde. Plötzlich sagten Optimisten, es habe sich nur um ein Missverständnis gehandelt und ihre Freilassung stehe sicherlich kurz bevor. Ich traute meinen Ohren nicht. "Lebst du in einem anderen Universum?", fragte ich eine dieser Optimistinnen, der ich so nahe stehe, dass ich meine Fassungslosigkeit ihr gegenüber nicht kaschieren muss. "Kriegst du wirklich nicht mit, was für einem barbarischen Regime die Türkei ausgeliefert ist?!", fragte ich sie und versuchte ihr zu erklären, wie Stalin seine Schauprozesse inszenierte. Wie er jeden unliebsame Kritiker zum Staatsfeind erklären ließ.

Diese Gespräche enden meinerseits immer mit Kopfschütteln. Keine Chance, gegen diese Naivität anzudiskutieren. Es geht um gebildete, hochintelligente Menschen, die aber in diesem Aquarium der Brutalität völlig verloren sind. Sie glauben das, was sie aus Verzweiflung glauben möchten.

Einige Tage später kam die Entscheidung. Gleich nach dem Aufstehen musste ich erfahren, dass Özlem und fünf ihrer Aktivisten-Freunde nun offiziell in Untersuchungshaft sitzen. Zu den neuen Geiseln zählen auch der schwedische IT-Berater Ali Gharavi und natürlich der deutsche Peter Steudtner. Ein deutscher Vater von zwei Kindern befindet sich nun hinter Gittern, gemeinsam mit anderen Idealisten, die nur den Unterdrückten zu einem Leben in Würde verhelfen wollten. Sie alle wurden zu Geiseln. Zu Marionetten in einem dreckigen Kapitel internationaler Politik.

Kein Zufall ist auch, dass sie zu dem Zeitpunkt festgenommen wurden, als Kemal Kılıçdaroğlu, der Vorsitzende der Oppositionspartei CHP, kurz davor war, seinen 430 Kilometer langen "Protestmarsch für Gerechtigkeit" zu beenden. Die Festnahmen auf der Insel Büyükada waren ein Schlag ins Gesicht für die Opposition und alle G-20-Regierungsvertreter, die in Hamburg auf Erdoğan getroffen sind.

Letzter Angriff auf das, was von der Nation übrig blieb

Einige haben die Message verstanden: Völlig skrupellos zeigte Erdoğan der Welt, wie nah er Leuten wie Putin und General Sisi ist - und dass er nicht mal daran denkt, von seiner harten Haltung gegenüber Oppositionellen auch nur einen Millimeter abzuweichen. Kurden, Gülenisten, Linke, Liberale, Akademiker, Journalisten und Richter werden ihm nicht mehr genügen. Nun fühlen sich er und seine anderen Unterstützer im Staatsapparat für die nächste Phase bereit: alle Menschen, die sich generell für Menschenrechte und für die Verfolgten des Regimes einsetzen.

Die Botschaft könnte nicht eindeutiger sein. Kriminalisierung genau derer, die sich für Freiheit und Rechte einsetzen, meint den letzten Angriff auf das, was von der Nation noch übrig blieb. So haben sich alle faschistischen Regimes benommen, wo auch immer sie an die Macht kamen, von Italien bis Iran. Diese Lähmung allen Mitleids für "das Andere" öffnet die Tore zu einer orwellschen Gesellschaft.

Es wundert mich, dass so viele Intellektuelle, die sich für eine offene Gesellschaft einsetzen, so blind sein konnten zu glauben, dass Özlem und ihre Freunde wieder freigelassen werden.

Wie konnten sie das nur glauben, zu einem Zeitpunkt, an dem bereits Tausende aus politischen Gründen in Haft sitzen. Warum hätten ausgerechnet sie privilegiert behandelt werden sollen? Der Grund für diese Naivität ist in ihrer eigenen Panik zu suchen: Sie klammern sich sozusagen an die Hoffnung auf eine Hoffnung.

Kurz bevor die Richter entschieden, Özlem, Peter, Ali, Idil, Veli und Günal ins Gefängnis zu stecken, erschraken einige Freunde, weil sie plötzlich Erdoğans Stimme in ihren Telefonen hörten. Der größte türkische Mobilnetzbetreiber Turkcell hatte in der Nacht, in der sich der Putschversuch jährte, dafür gesorgt, dass der Präsident zu jedem Bürger direkt sprechen konnte. Er drückte seinen Dank aus, dass die Nation die Demokratie vor den Putschisten gerettet habe. "Wie ist das bloß möglich?", fragten mich meine Freunde. Ich versuchte ihnen zu erklären, dass die Türkei längst gekapert wurde von einer Koalition aus dunklen Mächten. Das Tragische an meinen schockierten Freunden ist, dass sie komplett unterschätzt haben, mit welch brachialer machiavellistischen Intelligenz Erdoğan vorgeht, und nicht ahnten, wie weit er dabei gehen würde.

Wenn ich dieser Tage höre, Erdoğan sei beeindruckt von dem "Marsch für Gerechtigkeit", kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Ist er nicht. Nicht mal ein kleines bisschen. Als er bei der Veranstaltung zum Jahrestag des Putschversuchs gesprochen hat, ging er sogar so weit, den eigenen Justizminister in der Öffentlichkeit dafür zu rügen, dass er Ahmet Türk freigelassen hat, den großen alten Mann im Kampf der Kurden für ihre Rechte, der für lange Zeit im Gefängnis saß. Der heute 75-Jährige war nicht nur brutal aus seinem Amt des Bürgermeisters der Stadt Mardin gedrängt worden, sondern saß auch lang wegen angeblicher "terroristischer Aktivitäten" im Gefängnis. Man hatte ihn endlich freigelassen, weil er aufgrund von Herzproblemen sehr gebrechlich ist. Jetzt hatte er am "Marsch für Gerechtigkeit" teilgenommen, wenn auch nur ganz kurz, als symbolische Aktion.

"Was ist das für ein kranker Mann?", schrie Erdoğan in die Menge und schaute auf den Justizminister. "Wieso wurde er freigelassen? Und nahm dann an dem Marsch teil? Minister, hatte der Mann ein ordentliches ärztliches Gutachten? Er hätte unter unserer Beobachtung stehen sollen!" Erdoğan sprach über einen Mann, der bei allen Kurden größten Respekt genießt. Der nach dem Militärputsch von 1980 schwer gefoltert worden ist. Und der trotzdem immer mit moderater Stimme für eine friedvolle Koexistenz von Türken und Kurden geworben hatte. Meine größte Sorge ist, dass alle Menschlichkeit und alle Werte in der Türkei zu Müll werden.

Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Timo Lehmann.

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