Süddeutsche Zeitung

Türkisches Tagebuch (XI):Schweigen ist jetzt der Feind der Demokratie

Jeder Minister kann in der Türkei ab sofort jedes Medienhaus und jeden Verlag zumachen lassen. Staatsanwälte müssen Folge leisten. Das ist das Ende der Pressefreiheit. Und nun?

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

"Alle Freiheiten außer Kraft gesetzt". So lautete am Freitag die Schlagzeile der Cumhuriyet. Sie ist eine der letzten Zeitungen, die es noch wagen, kritisch zu berichten, und sie schreibt, dass die neuen Verordnungen der Regierung das Recht geben, jedes Medienhaus mit der Begründung zu schließen, es habe "Verbindungen zu Strukturen und Gruppierungen, die eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen". Jeder Minister kann ab sofort jedes Medienhaus und jeden Verlag zumachen lassen. Staatsanwälte müssen Folge leisten. Mit anderen Worten: Das ist das Ende der Pressefreiheit.

Türkisches Tagebuch

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1958 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt er einen täglichen Gastbeitrag. Deutsch von Alex Rühle.

Ansonsten ging es in dem Leitartikel der Cumhuriyet noch um die Hexenjagd gegen all die Akademiker, die mal eine Petition zum Ende der Gewalt im Osten der Türkei unterschrieben haben. Staatsanwälte können jetzt von sich aus Haftbefehle ausstellen und das Eigentum von Verdächtigen beschlagnahmen. Eine der absurdesten Geschichten, die sie erwähnen, war die Schließung einer In-Vitro-Klinik in Istanbul, die von einem armenischen Arzt geleitet wird. Begründung: Die Klinik gehöre der FETÖ-Terrororganisation an. Der Doktor bestreitet das aufs Heftigste. "Ich bin Christ und hatte nie im Leben mit Gülen zu tun", sagte er, was ihm aber auch nichts genützt hat.

Festgenommenen werden Medikamente verweigert

Wenn das noch tragikomisch ist, so ist das Folgende einfach nur tragisch: Am Freitag wurden 21 der 42 verhafteten Journalisten von vier Staatsanwälten befragt, darunter der 72-jährige Politikwissenschaftler und Kolumnist Şahin Alpay und der 80-jährige Hilmi Yavuz, eine der zentralen Figuren der türkischen Literatur. Beide brauchen aufgrund ihres hohen Alters täglich Medikamente, die ihnen laut ihren Angehörigen verweigert wurden.

Alpays Verwandte gingen am Freitagmorgen zum Büro des Staatsanwalts und zeigten seine Krankenakte vor mit der Bitte, die Befragung möglichst kurz zu halten. Das Gesuch wurde abgelehnt. Als sie dann zum Polizeipräsidium zogen, um wenigstens zu erfahren, wie es ihm geht, wurde ihnen wohl gesagt, dass man keine Auskunft erteilen könne. Dann wurden sie des Gebäudes verwiesen.

Noch trauriger macht mich die Tatsache, dass weder der türkische oder der internationale PEN noch heimische oder internationale Akademikerkreise bisher gegen diese beiden völlig absurden Verhaftungen protestiert haben. Hilmi Yavuz ist einer der großen alten Männer der türkischen Literatur - und die Kunst- und Literaturwelt schweigt. Jeder Akademiker weiß, wer Şahin Alpay ist und was er über Meinungsfreiheit und Bürgerrechte gesagt und geschrieben hat. Aber auch in diesem Fall schweigen all seine Kollegen. Die Hexenjagd macht allen Angst und unter türkischen Intellektuellen ist leider immer noch der primitive Gedanke verbreitet, dass irgendwelche früheren Meinungsverschiedenheiten Grund genug sind, sich jetzt indifferent zu verhalten.

Unter den gegebenen Umständen wird eine in sich zerstrittene Elite eine Niederlage nach der anderen erleiden. Schweigen ist in diesen außerordentlichen Zeiten der Feind der Demokratie.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3099986
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 30.07.2016/jobr
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.