Türkisches Tagebuch (I):Jetzt droht eine eiserne Zeit

Zerstörungen im Parlament in Ankara

Sinnbild der bedrohten Demokratie: das Parlament in Ankara nach der Bombardierung in der Nacht auf Samstag.

(Foto: AP)

Kultur und Medien litten in der Türkei schon vor dieser furchtbaren Nacht. Nun zeigen die Reaktionen Ankaras auf den gescheiterten Putsch: Das Land kann seine Sehnsucht nach Demokratie begraben.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Es war gegen 22 Uhr, wir saßen mit Freunden beim Abendessen und sprachen über den Anschlag von Nizza, als ich eine SMS von einem Kollegen aus Bodrum bekam: Was auf der Bosporusbrücke los sei? Warum Panzer und Soldaten sie sperrten? Damit war das Abendessen beendet, und eine der schrecklichsten Nächte in der Geschichte der türkischen Republik hatte begonnen.

Türkisches Tagebuch

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1958 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt er einen täglichen Gastbeitrag. Deutsch von Alex Rühle.

Wie schwer, wie tief der blutige Versuch eines Staatsstreichs die Türkei traumatisiert hat, kann man außerhalb unseres Landes wahrscheinlich nicht einmal in Ansätzen ermessen.

Die demokratischen Institutionen waren zuletzt ohnehin schon so schwer beschädigt, dass SOS-Rufe in die ganze Welt gingen. Diesem System haben die Putschisten mit ihrem anscheinend dilettantisch geplanten, überstürzt ausgeführten Versuch den tödlichen Stoß versetzt. Vielleicht passt am besten der Begriff des "Selbstmordputsches".

Am besorgniserregendsten ist die Erkenntnis, wie viel Blut in einer Nacht vergossen wurde. Nach den Worten von Premierminister Binali Yıldırım forderte der Putschversuch mehr als 200 Todesopfer, unter ihnen 145 Zivilisten, die bei nächtlichen Zusammenstößen starben. Mehr als 1500 Menschen wurden verwundet.

Ein solches Blutvergießen wird fast zwangsläufig weiteren Zorn und weitere Gewalt nach sich ziehen. Viele fürchten, dass die Demonstrationsaufrufe der AKP-Funktionäre an alle Getreuen Präsident Recep Tayyip Erdoğans die Spannungen auf die Spitze treiben werden. Die Lynchversuche von Samstagnacht sind bedrohliche Vorzeichen.

Der Verlauf des Dramas ließ viele Türken stutzen

Mehr als 7500 Menschen wurden festgenommen, sagte Yıldırım am Montag, davon mehr als 6000 Soldaten. Weitere werden folgen. Unter ihnen sind einige Generäle und viele Offiziere aus dem ganzen Land. Wir wissen, dass man sie des Hochverrats anklagen wird. Und wir hören auch - was vielleicht nicht besonders erstaunlich ist -, dass die AKP darüber diskutiert, die im Jahr 1999 abgeschaffte Todesstrafe wieder einzuführen.

Das ganze Drama kam völlig unerwartet, und sein Verlauf ließ viele Türken im Verlauf der Nacht stutzen. Die ganze Aktion wirkte dermaßen schlecht orchestriert, lückenhaft, zögerlich. Aber als dann die Nachrichten von den Bombardierungen in Ankara über uns hereinbrachen, wurden die Fragen noch drängender.

Einige Befehlshaber der Streitkräfte waren nicht erreichbar, es gab Gerüchte, sie seien an unbekannte Orte gebracht worden. Alle rätselten darüber, wer denn nun wirklich verantwortlich war. Und wir haben zu diesem Zeitpunkt, wo ich darüber schreibe, immer noch keine Antwort darauf.

Zusammengewürfelter Haufen aus sehr unterschiedlichen Strömungen

Dann besetzten Truppen den staatlichen Rundfunksender, so wie man das wohl im Kalten Krieg gemacht hätte, und zwangen eine Nachrichtensprecherin dazu, ein langes Manifest zu verlesen, in dem die Putschisten den Kampf gegen die Korruption und eine Rückkehr zur Demokratie versprachen.

Als auf dem Höhepunkt des Chaos in Ankara das Parlamentsgebäude bombardiert wurde, während Soldaten auf den Sender CNN Türk in Istanbul schossen, war die Verwirrung perfekt.

Wer waren diese Offiziere? Alle offiziellen Analysen kamen zu dem Schluss, dass die Bewegung um den in Amerika lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen dahintersteckt, einen einstigen Weggefährten Erdoğans.

Aber wenn man bedenkt, wie viele Soldaten in dieser Nacht unterwegs waren und wenn man ihr Manifest ernst nimmt, dann spricht vieles dafür, dass wir es mit einem zusammengewürfelten Haufen aus sehr unterschiedlichen Strömungen zu tun haben.

Es ist bekannt, dass die Syrienkrise und der Krieg gegen die kurdische PKK die Armee tief gespalten haben. Der Journalist Metin Gürcan schrieb, die Aufständischen unterteilten sich in drei Hauptgruppen. Neben den Gülen-Anhängern gebe es sehr viele Kemalisten und schließlich auch Opportunisten, die nur hofften, sich auf die Seite des zukünftigen Siegers geschlagen zu haben.

Erdoğan wird ein autokratisches System einführen

Ohne jeden Zweifel hat der Putschversuch Erdoğan sozusagen auf dem Silbertablett einen Vorwand geliefert, jetzt all das zu tun, was er immer schon tun wollte. Er wird mit harter Hand ein autokratisches System einführen und alle oppositionellen Kräfte radikal aus dem Weg räumen.

Die ersten Reaktionen am Wochenende haben das gezeigt: 3000 Richter und Staatsanwälte - das ist beinahe ein Fünftel aller Richter und Staatsanwälte des Landes - wurden innerhalb weniger Stunden aus dem Dienst entlassen. Gegen 188 Richter des Obersten Gerichtshofs wurde Haftbefehl erlassen. Viele von ihnen sind Aleviten, Kemalisten, Linke, Nationalisten oder auch Mitglieder der Gülen-Bewegung. Der Putschversuch führt also dazu, dass Erdoğan nun grünes Licht hat, nicht nur die Medien endgültig unter seine Kontrolle zu bringen, sondern auch echte oder vermeintliche Gegner aus der Justiz und dem Militär entfernen zu lassen. Darin liegt das traumatisierende Moment für dieses Land. Nach diesem historisch einmaligen Wahnwitz können wir unsere Sehnsüchte nach demokratischen Strukturen begraben.

Erste unmissverständliche Zeichen

Die schlimmsten Folgen lassen sich erst erahnen. Wenn man sich überlegt, dass dieser unvollendete Putsch geradezu danach schreit, nun auf ganz andere Weise zu Ende geführt zu werden, sind Razzien und immer neue harte Maßnahmen zwangsläufig. Die Haftbefehle für die Vertreter der Justiz sind erste unmissverständliche Zeichen.

Die bisherigen Maßnahmen folgen der inneren Logik der meisten Staatsstreiche quer durch die Geschichte. Wollte Präsident Erdoğan tatsächlich an der Armee und der Justiz "Vergeltung" üben, nachdem er die Medien bereits zu 90 Prozent in seine Gewalt gebracht hat, dann wäre dies der richtige Moment.

Wie reagieren die türkischen Intellektuellen auf diese Aussichten? In den vergangenen vier Jahren hat sich die kulturelle Landschaft sehr verändert, weil der politische Streit schärfer und verletzender wurde.

Jede vernünftige öffentliche Debatte ist schon lange vor dem Putschversuch durch staatliche Angriffe auf die Zeitungen und sonstige Medien zum Erliegen gekommen. Heute gibt es fast keine Debatten mehr.

Die Intellektuellen werden spätestens seit den Gezi-Protesten in Istanbul Woche für Woche neu schikaniert. Der Journalismus wurde stranguliert, Journalisten allein für die Tatsache bestraft, dass sie ihre Arbeit tun. Die Medien wurden des Rechts beraubt, die Öffentlichkeit zu informieren und ein Forum für den offenen Austausch von Ideen zu bieten.

Erinnerungen daran, wie man sich gegen Staatsstreiche zur Wehr setzt

All das hat sich seit dem Wochenende dramatisch verschlimmert. Es ist sehr viel riskanter als früher, einen Text wie diesen zu schreiben.

Andererseits haben die bedrängten türkischen Intellektuellen sehr intensive Erinnerungen daran, wie man sich gegen Staatsstreiche zur Wehr setzt - was sie auch jetzt wieder versuchen. Viele rufen zur Versöhnung auf und zu einer neuen Demokratisierungswelle. Allerdings bleibt die Frage, ob die aktuelle Situation nicht eher zu einer eisernen Herrschaft führt. Alle Sorgen und Bedenken sind in dieser Hinsicht leider völlig berechtigt.

Türkisches Tagebuch
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: