Türkischen Chronik (LII):Erdoğan wird nicht leise abziehen

Türkischen Chronik (LII): Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Zeremonie zum "Tag des Sieges" am 30. August 2017.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Zeremonie zum "Tag des Sieges" am 30. August 2017.

(Foto: AFP)

Die Türkei kann ihre Ordnung auf Dauer nur mit roher Gewalt sichern. Dadurch vertieft sich die Krise zunächst, bevor es irgendwann besser wird. Die letzte Folge der Türkischen Chronik.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Als die Türkei und der Rest der Welt im Juli vergangenen Jahres von einem Putschversuch überrumpelt wurden, war der türkische Journalist Yavuz Baydar einer der hell- und weitsichtigsten Analysten. Anfangs druckte das Feuilleton seine Texte als "Türkisches Tagebuch", später wurde daraus eine wöchentliche Kolumne, die "Türkische Chronik". Yavuz Baydar, der wie so viele andere türkische Intellektuelle, längst im Ausland lebt, hat ein Jahr lang die Entwicklung in seiner Heimat begleitet, die Drangsalierung befreundeter Journalisten, die Gängelung der Justiz, den wachsenden Druck auf alle kritischen Geister. Für viele Leser war er eine so wichtige Quelle über die Türkei, dass seine Chronik auch ins Englische übertragen wurde. Nach zwölf Monaten und 52 Folgen endet die Türkische Chronik mit dieser Folge - aber selbstverständlich nicht die journalistische Begleitung der Ereignisse in der Türkei - auch durch Texte von Yavuz Baydar.

"Als Türkei-Beobachter ist man an einen hitzigen politischen Austausch sowohl innerhalb des Landes als auch zwischen der Türkei und ihren internationalen Partnern gewöhnt. Seit vergangenem Frühjahr aber wurden alle Grenzen überschritten", so schrieb Marc Pierini kürzlich bei Carnegie Europe. Pierini war EU-Botschafter in Ankara, als die Türkei noch als aufsteigender Stern galt. Heute zeigen seine Kommentare, wie düster es um das zerstörerische politische Missmanagement von Präsident Recep Tayyip Erdoğan geworden ist. Pierini leitet daraus vier Konsequenzen ab: Erstens habe die europäische Nachsicht mit Erdoğan ein Ende gefunden. Galt er einst als schwieriger Partner, so stehe er heute im Ruf, als das einzige gewählte Staatsoberhaupt in der Nato oder im Europarat seine Amtskollegen aus rein innenpolitischen Zwecken anzugreifen.

Zweitens, so Pierini, durchschaue man in der EU mittlerweile Erdoğans Absichten und reagiere mit harten Zurechtweisungen, und zwar "sowohl aus Prinzip als auch zur Verteidigung ihrer Demokratien". Politisches Nichtstun sei keine Alternative mehr. Drittens sei in der Zollunion die einzige Komponente der EU-Türkei gefährdet, die zuletzt von positiven Entwicklungen gezeugt habe. Damit drohten der EU zwar Verluste, schlimmer aber wären die Auswirkungen für die türkische Wirtschaft, die zu einem extrem ungünstigsten Zeitpunkt einbrechen würde.

Pierinis letztes Argument betrifft die generelle Einschätzung der Türkei durch westliche Militär- und Geheimdienste. "Mit dem täglich wachsenden, unkontrollierten Autoritarismus, dem systematischen Abbau der Rechtsstaatlichkeit, staatlichen Geiselnahmen und einem gespaltenen Militär kann die Türkei nur noch als ein Schurken-Partner betrachtet werden." Dies aber beinhalte einen irreparablen Vertrauensverlust vieler Partner Ankaras in die aktuelle Führung, so Pierini, und könne zur politischen Abkapselung führen.

Die Realität also ist hässlich, die Situation verfahren. Dies liegt auch an der Kurzsichtigkeit der EU-Verantwortlichen. Seit den Gezi-Protesten haben sie die Warnsignale ignoriert, sich in falschem Optimismus oder Gleichgültigkeit geübt und taktische Fehler begangen. Nun stehen wir also, wo wir sind.

Der türkische Präsident hat sein Land in eine Sackgasse manövriert. Darin liegt eine strategische Herausforderung für die deutsche Regierung nach den Wahlen. Nicht nur werden in der Türkei dann höllische Bedingungen herrschen, es können sich auch Risse innerhalb der EU bilden. Denn Großbritannien hat vor, das Vakuum auszufüllen und hofft, von vermehrtem Handel und Zusammenarbeit zu profitieren. Zur Erosion der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei hüllt sich London in Schweigen.

Leider wird vermutlich Blut fließen, bevor sich etwas ändert

Yavuz Baydar

Ein Jahr lang bezeugte er die drastische Entwicklung seiner Heimat in seinem "Türkischen Tagebuch": Journalist Yavuz Baydar.

(Foto: privat)

Wie aber steht es um die Zukunft der türkischen Bevölkerung? Immer wieder werde ich gefragt, ob diese Krise von Dauer sei. Das ist sie nicht. Doch im Moment verbreitet sie sich wie eine systemische, immer schlimmer werdende Krankheit. Wie eine zu groß geratene Kopie Aserbaidschans zeigt die Türkei alle Symptome eines Polizeistaates, aber ihre sozialen Strukturen und die Tradition von sieben Jahrzehnten mit freien Wahlen deuten auf einen breiten Widerstand von innen her hin. Erdoğans Weg ist deshalb dazu verdammt, Ordnung durch rohe Gewalt zu sichern. Doch damit wird sich die Türkei früher oder später in ein unregierbares Land verwandeln, und leider wird vermutlich Blut fließen.

Aber warum wählte Erdoğan diesen Weg zu einem Zeitpunkt, als sich die Türkei noch im Aufschwung befand? Er musste. Seit den Wahlen 2011 zeigte sich, dass Erdoğan eine Mischung aus Vetternwirtschaft und Klientelismus als politische Maschinerie im Auge hat. Er schuf eine Ordnung, die es ihm erlaubte, verschiedene Segmente der Gesellschaft direkt von ihm abhängig zu machen. Durch die Umverteilung von Ressourcen festigte er seine Unterstützung an der Wählerbasis. Damit entstanden ganze Geschäftszweige für Schmeichler und eine ganze politische Klasse, die jene Muster kopierte, welche die Türkei in den Neunzigern in Korruption hatten versinken lassen.

Wie konnte ihm das gelingen? Alles drehte sich um das öffentliche Beschaffungswesen. In der guten alten Zeit, als die Versuche, die Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft zu erfüllen, zu klappen schienen, lag der alten AKP-Führung noch sehr viel an der Rechenschaftspflicht. Dann aber, etwa von 2010 an, erregte das öffentliche Beschaffungsgesetz das Interesse von Erdoğan und seinen Freunden. Nach und nach wurde es mehr als 160 Mal geändert, bis es schließlich einem "schmutzigen Glücksrad" glich. Die Folge war eine tief greifende Korruption, der Weg für eine "organisierte Plünderung" unter politischem Schutz war geebnet.

Zwischen Erdoğan und einer Rückkehr zur Demokratie stehen also vor allem erhebliche Korruptionsvorwürfe. Vor allem deshalb ist die Justiz nur mehr der verlängerte Arm des Palastes, deshalb wurde die Rechtsstaatlichkeit zerstört, deshalb können kritische Journalisten nur zwischen Gefängnis und Arbeitslosigkeit wählen, deshalb werden türkische oder ausländische Staatsangehörige als Geiseln für mögliche Tauschhandel genommen. Deshalb ist es für Erdoğan so wichtig, politisch zu überleben. Seine politische Macht wird er nie abtreten, sofern ihm nicht eine Ausstiegsstrategie angeboten wird.

"Verlieren Sie nicht Ihr Mitgefühl"

Werden die türkischen Eliten weiterhin das Land verlassen? Ja, das werden sie. Eine Diaspora qualifizierter Arbeitskräfte ist bereits im Gange. Wie stark dieser Exodus zunimmt, hängt sowohl von der ökonomischen Umverteilung des privaten Vermögens sowie von der weiteren Entfremdung zur herrschenden Mehrheit ab. Denn an der Spitze der neuen sozialen Hierarchie findet sich eine sunnitische Wählerbasis, die unter dem Diktat der führenden sunnitischen Institution Diyanet, der Direktion für religiöse Angelegenheiten, steht.

Aber zeigt nicht das Referendum, dass 50 Prozent der Menschen gegen die Erdoğan-Herrschaft sind? Warum kann sich die politische Opposition nicht zusammentun? Dies scheint unmöglich zu sein. Denn die Türkei ist seit Langem in drei große Identitätsgruppen gespalten: Sunniten, Säkulare, Kurden. Die ersten beiden verbindet immerhin eine Art archaischer türkischer Nationalismus, der sich aber vornehmlich über das Verleugnen vergangener Verbrechen und das Abschlagen von kurdischen Forderungen nach kollektiven und individuellen Rechten definiert.

Zudem versucht das säkulare Segment nicht ausreichend, seinen Staatskult sowie seine Abneigung gegen die Partizipationsansprüche der kurdischen Bewegung zu überwinden. Viel wird davon abhängen, ob die Hauptopposition vernünftig wird. Erdoğan wird nicht leise abziehen.

Angesichts all dessen seien Sie darauf vorbereitet, dass die türkische Krise schlimmer werden wird. Bitte entziehen Sie ihr nicht Ihre Aufmerksamkeit, verlieren Sie nicht Ihr Mitgefühl für all diejenigen, die für eine anständige, demokratische Ordnung in der Türkei kämpfen.

Deutsch von Maximilian Sippenauer.

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