Türkische Chronik (XXXVII):Man muss auf eine demokratische Alternative hoffen

Türkische Chronik (XXXVII): Erdoğan-Gegner in Istanbul: Selbstgerechtigkeit wie "Wir haben es immer schon gewusst!" findet nun fruchtbaren Boden.

Erdoğan-Gegner in Istanbul: Selbstgerechtigkeit wie "Wir haben es immer schon gewusst!" findet nun fruchtbaren Boden.

(Foto: AFP)

Viele in der Türkei fragen sich, ob man die Katastrophe namens Erdoğan nicht hätte kommen sehen müssen. So ein Sarkasmus ist keine Lösung, sondern beleidigend.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Ich habe den Verdacht, dass wir die Schwelle überschritten haben, und dass es vielleicht keinen Weg zurück mehr geben wird. Das Ergebnis des Referendums über das Präsidialsystem hat eine autokratische Herrschaft in der Türkei besiegelt. Es hat einem Führer Legitimität verschafft und dessen Wünsche erfüllt, wie sehr auch die Opposition über Betrug klagen mag.

Wer noch auf eine demokratische Ordnung und ein Ende der Krise gehofft hatte, wurde in dieser Woche auch noch von einem Beschluss der Parlamentarischen Versammlung des Europarates enttäuscht: Die Türkei wurde zu einer Gruppe von Ländern heruntergestuft, zu der Aserbaidschan, Armenien, Georgien, Bosnien und Moldawien zählen, und wird wie diese Länder mindestens ein Jahr lang wegen Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit unter Beobachtung gestellt. Zusammen mit der Exekutivmacht, die das Referendum Präsident Erdoğan zugesprochen hat, markiert dieser Beschluss das Ende der Türkei, wie wir sie kannten.

Die Story von Erdoğans Partei AKP, die die türkische Politik in den vergangenen fünfzehn Jahren dominiert hat, hat in den letzten drei, vier Jahren eine völlig andere Wendung genommen, als viele lange Zeit dachten. Deswegen stellen sich viele von uns - Journalisten (von denen viele jetzt im Gefängnis oder im Exil sind), Intellektuelle, Mitarbeiter von Think Tanks - die Frage: Wie konnten wir uns in Erdoğan so täuschen? Waren die Erwartungen an die AKP von Beginn an ein Trugbild? War die Entwicklung vielleicht doch schon vorgezeichnet, weil es in Politik und Zivilgesellschaft kein ausreichendes Gegengewicht gab?

Jetzt, wo Erdoğans Macht immer weniger Hindernisse hat, wird diese Selbstkritik unausweichlich. Manche Beobachter üben sich sogar in einer gewissen Häme darüber, wie düpiert nun praktisch alle seien, nicht nur die türkischen Intellektuellen oder die Kurden, sondern sämtliche Institutionen des Westens, die sich samt und sonders in Erdoğan und der AKP getäuscht hätten. Diese Selbstgerechtigkeit - "Wir haben es immer schon gewusst!", "Wir haben euch gewarnt!" - findet nun fruchtbaren Boden. Solche Ausbrüche, die alle türkischen Reformer, Liberalen, Linken, kurdischen Intellektuellen, zivilgesellschaftischen Organisationen und so weiter der Naivität beschuldigen, verraten aber eine problematische Sehnsucht nach Vereinfachung, was die Türkei, ihr Volk und ihre Geschichte angeht.

Aber keine Frage, wir stecken jetzt in einem tiefen Sumpf des Autoritarismus. Viele Gespräche unter Intellektuellen drehen sich darum: Haben wir uns zu Komplizen gemacht? War die Demokratie für Erdoğan wirklich nur ein Mittel zum Zweckt? Und wenn ja, warum haben wir das nicht erkannt?

Steven Cook, einer der besten Beobachter der Türkei in den USA, schreibt in der Washington Post über die derzeit verbreitete Ansicht, Erdoğan sei von Anfang an auf Autokratie aus gewesen: "Diese Behauptung ist ein bisschen zu bequem, und sie blendet die Kontingenzen von Politik, verpassten Gelegenheiten und konkurrierenden Weltanschauungen aus." Cook erinnert mit Recht an außenpolitische Faktoren, aber auch daran, dass Erdoğan ja tatsächlich einige Reformen ins Werk gesetzt hatte - er hat zunächst die Pressefreiheit und den Rechtsstaat durchaus gestärkt, und zwar mit Unterstützung von wichtigen Figuren der AKP.

Jeder ehrliche Intellektuelle musste der AKP eine Chance geben

Der Gegner seinerzeit war das türkische Militär, dessen Dominanz in der Politik man zurückdrängen wollte. Und die Vertreter dieser alten Ordnung versuchten auch wiederholt, den Einfluss der AKP zu begrenzen, ermutigt unter anderem durch das Scheitern der Wiedervereinigung Zyperns im Jahr 2004. Und dieser Kampf gegen das Militär erklärt, wie Steven Cook richtig feststellt, warum Erdoğan in den folgenden Jahren staatliche Institutionen nutzte, um das Establishment zu bekämpfen und mit der Zeit auch die Presse, so Cook, "gleichsam zu seinem Informationsministerium machte".

In einer neuen Dokumentation über Erdoğan, "L'Ivresse du Pouvoir" von Guillaume Perrier und Gilles Cayatte, erklärt einer der Gründungsväter der AKP, der kurdische Politiker Dengir Mir Mehmet Firat, die politischen Umstände hätten erst das Schlimmste aus Erdoğan herausgeholt; und je einsamer er sich an der Spitze gefühlt habe, desto despotischer sei er mit der Zeit geworden.

Der Sarkasmus, mit dem jetzt behauptet wird, alle seien Idioten gewesen, ist beleidigend

Schwarz-Weiß-Malerei aus heutiger Sicht hilft nicht weiter. Es stimmt zwar: Es gab etliche, besonders bei den Kemalisten und Ultrasäkularisten, die kategorisch die Aufrichtigkeit von Erdoğan bestritten, wobei sie oft die demokratische Basis ignorierten, die seine Partei repräsentierte. Für andere aber, zu denen auch ich zählte, war diese scharfe Ablehnung fragwürdig. Jeder ehrliche Intellektuelle musste damals der AKP eine Chance geben. Jeder schrieb sozusagen einen Scheck über eine unterschiedliche Summe an moralischer Investition. Und als Erdoğan begann, seine Haltung zu ändern, scherte jeder einzelne Intellektuelle irgendwann aus und definierte für sich jeweils das Ereignis, das ihn sagen ließ: Genug, jetzt hat er den Kredit endgültig verspielt.

Für mich persönlich zum Beispiel war die Reformpolitik der AKP am Ende, als Erdoğan im Januar 2011 Kars besuchte, dort an der türkisch-armenischen Grenze eine "Statue der Freundschaft" des bedeutenden Bildhauers Mehmet Aksoy erblickte und anordnete, das "monströse" Monument müsse zerstört werden, was auch umgehend befolgt wurde.

Ich glaube nicht daran, dass es von vornherein ein versteckte Agenda gab. Die säkulare Opposition hat es nicht vermocht, sich selbst zu reformieren, während sich die EU einschließlich Angela Merkel nicht zu einer klaren Strategie für eine Mitgliedschaft der Türkei durchringen konnte. Das raffinierte alte Establishment der Türkei wiederum schaffte es, sich eine gewisse Teilung der Macht mit Erdoğan zu erschleichen, wie der Zustand der Türkei nach dem Putschversuch 2016 gezeigt hat.

Alles war klar, von Anfang an? Nein. Und viele, die Urteile über die Türkei fällten, verfolgten damit eigene politische Absichten. Waren alle Berichte der EU über Reformfortschritte der Türkei gelogen? Nein. Der Sarkasmus, mit dem jetzt behauptet wird, alle seien Idioten gewesen, ist beleidigend. Besser sind jetzt illusionslose Analysen - vielleicht ist die Geschichte der AKP ein Feldstudie, die uns heute vorführt, dass politischer Islam und Demokratie nicht vereinbar sind. Aber wenn es so ist, dann muss man trotz allem auf eine neue demokratische Alternative hoffen - anstatt eine Rückkehr zum alten Regime der kemalistischen Türkei zu beschwören.

Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Johan Schloemann.

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