Süddeutsche Zeitung

Türkische Chronik XXXVI:"Die Unterdrückten werden ihre innere Stärke wiederfinden"

Nach dem Referendum brodelt es weiter in der Türkei. Und es stellt sich die Frage, wie die Opposition nun vorgeht.

Von Yavuz Baydar

Der Kampf, der nach dem Referendum ausgebrochen ist, wird nicht so schnell ein Ende finden. Die Türkei versinkt tiefer in der Krise. Das Nein-Lager bei der Volksabstimmung hatte insgeheim einen klaren Sieg der Ja-Sager befürchtet, 55 Prozent Zustimmung oder mehr - das hätte die Opposition in selbstmörderische Depressionen gestürzt. Der knappe Ausgang und der starke Glaube, dass die Wahl manipuliert wurde, haben dagegen neue Kräfte mobilisiert.

Protest auf Straßen und Plätzen scheint nun wieder das Mittel der Wahl für jene zu sein, die sich Erdoğans "Weg in die Tyrannei" entgegenstemmen wollen. Wenn jetzt die Opposition und internationale Wahlbeobachter gegen Erdoğan und die von ihm kontrollierten Gerichte stehen, offenbart dies die Maschinerie von Lügen und Manipulation noch klarer als zuvor. Erdoğans Gegner sind am 17. April mit einer noch größeren Angst und Verachtung für dessen Machtapparat erwacht.

Erdoğan ist nicht geschwächt

Im Augenblick aber sehen wir nur einen Tumult, nichts weiter. Er könnte zu einer echten Widerstandswelle heranwachsen, wie man sie etwa in Venezuela sieht. Oder aber verebben und versanden, wie man es schön öfter in der Türkei erlebt hat.

Klar scheint mir zu sein, dass Erdoğan nicht geschwächt ist. Wer sagt, er habe jetzt nur einen Pyrrhussieg errungen, verdreht die Realität, das ist reines Wunschdenken. Vielleicht hat Erdoğan nicht hoch gewonnen, aber er hat auch nicht verloren. Nach den Juliwahlen von 2015 stand er jedenfalls schwächer da.

Damals hat er nur vier Monate gebraucht, um in den Modus der Wahlwiederholung umzuschalten, aus dem er im November 2015 dann stärker denn je hervorging. Heute steht ihm ein Mittel zur Verfügung, das er damals nicht hatte - der Ausnahmezustand, den er unmittelbar nach dem Referendum verlängerte. Dieser verschafft ihm die Macht, per Dekret zu regieren, und nahezu vollständige Kontrolle über das Militär. So steuert er auf den krönenden Abschluss seines politischen Abenteuers zu - den fest eingeplanten Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im August 2019, nach dem er seine Mission, irreversible Veränderungen im politischen System der Türkei durchzusetzen, als vollendet betrachten kann.

So viel ist klar. Aber was ist mit der Opposition? Hat sie diesem Plan etwas entgegenzusetzen?

Die Nein-Fraktion bei der Volksabstimmung war so tief fragmentiert, dass es erstaunlich erscheint, was sie dennoch erreicht hat, sogar ohne unabhängige Medienberichterstattung und oftmals unter dem Druck öffentlicher, oft sogar körperlicher Drangsalierung ihrer Aktivisten. Den knappen Wahlausgang könnte man als Zeichen ihres erfolgreichen Widerstands sehen. Eine ganz andere Sache dagegen ist es, jetzt Erdoğans Machtwillen entgegenzutreten, der den Vorwurf der Wahlmanipulation mit den Worten lächerlich machte, das komme viel zu spät und sei nur Schattenboxen. In den vergangenen Tagen habe ich, besonders bei den jüngeren Türken, viel Verzweiflung gespürt. Das Land, so wie wir es kannten, sagten sie, gebe es nicht mehr. Die Türkei habe sich von allen demokratischen Träumen verabschiedet.

Dies ist ein reales Gefühl, in dem sich der Mangel an wirklichen politischen Alternativen ausdrückt. Wer wollte es irgendjemandem verdenken, so zu fühlen? Dann aber lauschte ich einigen Statements, die CNN International von jungen großstädtischen Türken eingefangen hatte. Einer, der sich Yasin nannte, beschrieb die Stimmung so: "Wir sind in einer seltsamen Lage, weil wir den Siedepunkt noch nicht ganz erreicht haben." Und ein Mädchen namens Merve sagte: "Ich glaube nicht, dass die Menschen unter diesem Druck stumm bleiben werden - die Unterdrückten werden ihre innere Stärke wiederfinden. Aber diesmal werden wir langsamer und ruhiger vorgehen, weil wir aus den Erfahrungen der (Gezi)-Proteste gelernt haben. Natürlich hat unsere Motivation und Energie gelitten. Aber statt jetzt auf die Straße zu gehen, müssen wir uns erneuern und zusammenfinden, uns gegenseitig Hoffnung geben. Wir fühlen uns unterdrückt, aber wir wissen, dass wir jetzt strategisch vorgehen müssen."

"Dieser Terrorist wird nie nach Deutschland geschickt werden"

Während sich die säkulare städtische Jugend auf ein Leben mit zerbrochenen Illusionen einzurichten scheint, verharren die Kemalisten der Opposition, die Partei CHP und Teile der Linken in legalistischen Hoffnungen - als würden sie immer noch erwarten, dass die türkische Judikative das Referendum annullieren könnte. Diese Gruppe hängt immer noch der Chimäre an, dass die Türkei ein Rechtsstaat sein müsste. Alle Beweise des Gegenteils - etwa Erdoğans Aussage über den inhaftierten Welt-Korrespondenten Deniz Yücel, "dieser Terrorist wird nie nach Deutschland geschickt werden, solange ich dieses Amt bekleide" - scheinen sie zu ignorieren.

Wieder einmal setzt die CHP nun auf die Gerichte, in der Hoffnung, das Referendum noch für ungültig zu erklären. Dass das passiert, ist absolut unwahrscheinlich - und selbst wenn: Die furchtsamen frommen Massen könnten bei einer Wiederholung mit einem noch entschiedeneren "Ja" antworten. Das ist sogar sehr wahrscheinlich. Eine Alternative für die CHP wäre, ihre Parlamentsmandate massenhaft niederzulegen und den politischen Prozess zu paralysieren. Für solche Schritte aber ist die Partei, wie man weiß, zu konformistisch. Der Druckkochtopf Türkei wird erst einmal weiterbrodeln.

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Tobias Kniebe.

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SZ vom 21.04.2017
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