Das Verfassungsreferendum Mitte April ist für die Türkei in vielerlei Hinsicht eine Frage über "Sein oder Nichtsein". Und der Sender will das sein, was es heutzutage in den türkischen Medien nicht mehr gibt: eine Plattform für vielfältige, faire und öffentliche Debatten. Da die Kampagne der AKP bösartig, einseitig, aggressiv und bedrohlich geworden ist, ist die Aufgabe der Macher des Senders keine einfache: Sie wollen Erdoğan-Gegner dazu überreden, im Fernsehen ihre Meinung zu äußern.
Es war die richtige Entscheidung, in einen Sender zu investieren und nicht in eine Zeitung. Fast 90 Prozent der Türken beziehen Nachrichten und Kommentare über das Fernsehen, umsonst versteht sich. Das ist der Hauptgrund, warum Erdoğan seit der Gezi-Proteste die Kontrolle über das Fernsehen will.
Meine Kollegen von Arti TV kennen den Hunger nach alternativen Medien in der Türkei. Die Leute wollen über Machtmissbrauch, die Wirtschaftskrise, Korruption und das Versagen der türkischen Außenpolitik informiert werden.
Diese Themen tauchen in den etablierten Sendern nicht auf, da sie nur noch offizielle Bilder übertragen, sobald Präsident Erdoğan irgendwo eine Rede hält oder einer Veranstaltung beiwohnt. Die Zuschauer haben genug von den Pro-Erdoğan-Experten, die Abend für Abend auf allen Sendern die gleiche Propaganda herunterbeten.
Gegen Ende des Empfangs in Köln traf ich auf Celal Başlangıç, einen langjährigen Freund, er ist der Chefredakteur von Arti TV. Er sagte, dass die Ausstrahlung des Senders so viel Interesse auf sich zog, dass dessen Website beinahe kollabiert wäre.
Wenn Erdoğan den Kampf will, wird er ihn bekommen
Ich unterhielt mich mit einem türkischen Akademiker, der in den letzten Monaten in Deutschland ein sicheres Zuhause gefunden hat und derselben Meinung war wie ich: Wenn Erdoğan tatsächlich den gesamten demokratischen Widerstand der Türkei dem Erdboden gleichmachen will; wenn er wirklich glaubt, dass meine Journalistenfreunde am Ende dem Druck nachgeben; wenn er hofft, dass die gesamte akademische Welt der Türkei unter seinem Kommando stehen wird; wenn er erwartet, dass die Kurden in der Türkei die demokratischen Forderungen und Kollektivrechte vergessen werden: Dann werden er und seine Partei immer wieder aufs Neue angegriffen werden.
Es ist ein Kampf mit weitreichenden, historischen Dimensionen. Viele Turkvölker sind in Zentralasien und Aserbaidschan von brutalen Diktatoren in die Knie gezwungen worden. Doch wer weiß, vielleicht entsteht jetzt gerade eine neue Jungtürken-Bewegung, die sich dieser Unterdrückung entzieht.
"Siehst du hier irgendwo einen Ahmed Rızâ Bey?", fragte ich einen älteren, linken Intellektuellen, bevor ich nach Hause ging. Er lachte. "Sultane bringen solche Leute hervor", sagte er. "Ich hoffe, so weit kommt es nicht."
Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Natalie Broschat.
- "Jetzt droht eine eiserne Zeit" (I)
- "Der Türkei droht das Ende eines unabhängigen Journalismus" (II)
- "Wir haben es mit massiven 'Säuberungen' zu tun" (III)
- "Die Verhaftungswellen hören nicht auf" (IV)
- "Ausnahme ist kein Zustand" (V)
- "Erdoğan treibt die türkischen Eliten ins Ausland" (VI)
- "Die Hexenjagd hat begonnen" (VII)
- "Erdoğan regiert per Dekret - was das heißt, weiß in der Türkei jeder" (VIII)
- "Erdoğan vollzieht den 'zivilen Staatsstreich'" (IX)
- "Erdoğan begünstigt Manipulation und Desinformation" (X)
- "Schweigen ist jetzt der Feind der Demokratie" (XI)
- "Die Türkei nimmt Angehörige in Geiselhaft" (XII)
- "'Sie werden sterben wie Kanalratten'" (XIII)
- "Wo sind die AKP-Mitglieder, die am Putsch teilgenommen haben?" (XIV)
- "Italien sollte sich lieber um die eigene Mafia kümmern" (XV)
- "Warum man Erdoğan nicht trauen kann" (XVI)
- "Du bist als nächstes dran" (XVII)
- "Wir wollen Exekutionen" (XVIII)
- "Jeder ist verdächtig" (XIX)
- "Exodus der türkischen Elite" (XX)
- "Ist es ein Verbrechen, mit einem Reporter verheiratet zu sein?" (XXI)
- "Erdoğan hält die Massen in explosiver Hypnose" (XXII)
- "Es ist Zeit aufzuwachen" (XXIII)
- Türkische Chronik (I): Wie die AKP Verschwörungstheorien über den Putsch befeuert
- Enteignungen wie im Osmanischen Reich (II)
- Haftbefehl ohne Grund (III)
- Man muss die Dinge beim Namen nennen (IV)
- Die alten Foltermethoden sind zurück in der Türkei (V)
- "Man sollte uns unseren richtigen Job machen lassen" (VI)
- Türkei zieht Schrauben der Unterdrückung weiter an (VII)
- "Bedauerlich, dass wir Journalisten das Hauptthema der Nachrichten sind"(VIII)
- Erdoğan plant eine Islamisierung der Schulen (IX)
- Was geschah wirklich in der Nacht vom 15. Juli? (X)
- Die Türkei steht kurz vor einem Bürgerkrieg (XI)
- Wie lange wird die EU der schrecklichen Eskalation standhalten? (XII)
- Verhaftete türkische Journalisten sollten Ehrenbürger werden (XIII)
- Die Kurden verlieren ihre Heimat (XIV)
- Erdoğan fegt sie einfach weg (XV)
- Erdoğan und Trump - Die Zeichen stehen auf hässliche Realpolitik (XVI)
- War der Militärputsch vorhersehbar? (XVII)
- Demokratie in der Türkei - wenn alles zerrinnt (XVIII)
- Russland wird seine Chance nutzen (XIX)
- Das Jahr eines intensiven Albtraums (XX)
- Die AKP erntet, was sie gesät hat (XXI)
- Erdoğan nähert sich seinem Ziel (XXII)
- Der Todeskampf des türkischen Schulsystems (XXIII)
- Jazz war Aktionismus (XXIV)
- Scheidung - und dann? (XXV)
- Sie wollen alle Fremdkörper "entfernen" (XXVI)
- Das Land der Fäulnis (XXVII)
- Nur noch ein kurzer Weg zum Faschismus (XXVIII)
- Die Presse als erstes Angriffsziel (XXIX)
- Prozess als Farce (XXX)
- Die neuen Jungtürken aus Köln (XXXI)
- Berufsverbot für Akademiker (XXXII)
- Dinner mit den Underdogs (XXXIII)
- Das Bangen vor dem Referendum (XXXIV)
- Mit der Türkei, wie wir sie kennen, ist es vorbei (XXXV)
- Die Unterdrückten werden ihre innere Stärke wiederfinden (XXXVI)
- Man muss auf eine demokratische Alternative hoffen (XXXVII)
- Wie weit kann man die Grausamkeit noch treiben? (XXXVIII)
- Bücher in die Verbannung (XXXIX)
- Rechtfertigen Erdoğans Schikanen einen Hungerstreik? (XL)
- Wer gegen Erdoğan ist, muss hungern (XLI)
- Jetzt wurde auch noch ein UN-Richter verurteilt (XLII)
- Das Messer hat den Knochen getroffen (XLIII)
- "Es wird ein Tag kommen, an dem das Land explodiert" (XLIV)
- Die Türkei leidet an einem geistigen Ausnahmezustand (XLV)
- Was wir verloren haben, ist schwer wieder herzustellen (XLVI)
- Erdoğan ist das personifizierte Problem der Türkei (XLVII)
- Warum im Ausland lebende Türken an ihrer Liebe zu Erdoğan festhalten (XLVIII)
- Erdoğans neuer Staat naht (XLIX)