Türkische Chronik (XXX):Regimegegner rein ins Gefängnis, gemeine Verbrecher raus

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Es war so: Am 9. Juli 1998 erschütterte eine Explosion den Ägyptischen Basar in der Altstadt von Istanbul. Sieben Menschen starben, etwa 130 wurden verletzt. Der kurdische Aufstand hatte zu jener Zeit seinen Höhepunkt erreicht, die mächtige türkische Armee kontrollierte damals alle staatlichen Institutionen und große Teile der Justiz.

Der Rest der Zusammenfassung stammt von meinem Kollegen Cengiz Çandar, der den komplizierten Fall genau verfolgt hat: "Die Ermittler verdächtigten die junge Soziologin Pınar Selek, die durch ihre nonkonformistische Art von sich reden gemacht hatte, an dem Anschlag beteiligt gewesen zu sein. Ein vorgebliches Mitglied der PKK, der als Hauptverdächtiger der Tat galt, hatte gegen sie ausgesagt.

Schlussendlich wurde aber aufgedeckt, dass er all das unter Zwang ausgesagt hatte. Seltsamerweise wurde dieser Mann, der später zugab, er habe Selek nicht einmal gekannt und sei unter Folter zur Namensnennung gezwungen worden, nicht verurteilt.

Im Gegensatz zu ihm verbrachte Selek zweieinhalb Jahre im Gefängnis - bis sie vorübergehend freigesprochen wurde. Obwohl alle Beweise dafür sprechen, dass die Explosion durch Gasflaschen verursacht wurde, wie eine Vielzahl von Experten dem Gericht bestätigten. Selek wurde ein weiteres Mal freigesprochen, und wieder kassierte eine höhere Instanz die Entscheidung. Ein neuer Prozess, eine neue Beweisaufnahme, neue Expertenberichte, und Selek wurde wieder freigesprochen."

Zur Farce gehört auch, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte trotz dieses langen und unmöglichen Prozesses weigert, Seleks Beschwerde anzunehmen. Die Begründung: Sie müsse erst sämtliche Rechtsmittel in der Türkei ausschöpfen, bevor sie sich an ihn wenden könne. Nach allem, was sie durchgemacht hat, erstaunt es sie nicht, dass Zehntausende Regimekritiker inhaftiert und gemeine Verbrecher entlassen werden, um Platz zu schaffen, sagt sie.

Viele Gefangene im Hungerstreik

Als ich Genf verließ, erreichten mich Informationen aus dem Europarat. Der Bericht besagte, dass sich die Zahl der Gefängnisinsassen in der Türkei zwischen 2006 und 2015 fast verdoppelt habe, während sie in vielen anderen Mitgliedsstaaten gefallen sei. Die überfüllten Gefängnisse sind ein Pulverfass. Die Anwälte einer großen kurdischen Solidaritätsorganisation gaben erst am Mittwoch bekannt, dass viele Gefangene in den Hungerstreik treten und sich diese Form des Protestes erheblich ausweiten könnte.

In der Türkei haben sich die Forderungen nach menschlichem Anstand in einen unaufhörlichen Kampf umgewandelt. Am Mittwoch etwa verhaftete die Polizei Raci Bilici, den stellvertretenden Vorsitzenden der NGO Human Rights Association. Der Ausnahmezustand, durch den die Bevölkerung schikaniert wird, ist bereits jetzt unerträglich geworden - und trotzdem befindet sich die Türkei weiterhin im In- und im Ausland auf Konfrontationskurs.

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Anna Fastabend.

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