Türkische Chronik (XXIX):Erdoğan verfolgt eine Art Masterplan des Autoritarismus

Türkische Chronik (XXIX): Die Europäische Union muss Erdoğan und seiner Regierung deutlich machen, dass wir nicht im Europa der 1930er Jahre leben.

Die Europäische Union muss Erdoğan und seiner Regierung deutlich machen, dass wir nicht im Europa der 1930er Jahre leben.

(Foto: AFP)

Aber manche konstruierte Feindschaften fallen in sich zusammen - und zu Unrecht Inhaftierte hoffen auf die europäische Gerichtsbarkeit.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Während man den beunruhigenden Prozess "Erdoğan gegen Deutschland" verfolgt, bemerkt man, wie sehr er von den rechten Parteien in Europa dafür beklatscht wird, Intoleranz und demokratische Toleranz auf die Probe zu stellen. Autoritäre Führer gedeihen bekanntlich auf dem Boden der demokratischen Toleranz. Ihre Reise zum "Endziel" entzieht sich jeglichen Kontrollpunkten, und ihre "freie Reise" zielt darauf ab, alle Gesetzmäßigkeiten aufzubrauchen - durch Unterwanderung von Regeln und Vorschriften.

Was wir mit dem Aufstieg von Putin, Erdoğan und auch Trump erlebt haben, ist nur ein Vorbote dessen, was uns in der Zukunft erwarten wird. Außer West-Europa beweist ein starkes Gedächtnis und wehrt das Gespenst ab.

Jeder Tag, an dem etwas in der traumatisierten Türkei geschieht, ist nur eine Bestätigung dafür, wie Diktatoren einst ihre Macht ausbauten, bis es zu spät war. Es klingt fast wie ein Manuskript: Zorn wegen historischer Abkommen; Wiederholung von Größenwahnsinn; konstante Erfindung nationaler und internationaler Feinde - alles von Lügen begleitet. In vielerlei Hinsicht ist Erdoğan die Reinkarnation eines "Führers", ermöglicht durch allerlei Sonderermächtigungen.

Aber es gibt einen großen Unterschied von früher zu heute. Vor ungefähr 80 Jahren war Europa ungenügend auf die Diktatoren-Möchtegerne vorbereitet. Das lag an den Uneinigkeiten der internationalen Rechtsinstitutionen. Heute sind die Rechtsgrundlagen stärker, und die Demokratien sollten alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihre Existenz zu retten und das Böse zu schwächen.

Präsident Erdoğan braucht immer einen Feind, um seine Machtbasis aufrechtzuerhalten. Durch die Polarisierung absolutiert und verstetigt er seine Macht. Anders als bei Hitler aber bleiben seine erfundenen Feinde nicht lange seine Feinde. Sie sind entweder genauso schlaue Herrscher wie er oder noch viel mächtiger. Sein "Feindschafts-Experiment" mit Syrien ging wegen der jüngsten Entwicklungen zu Ende. Sein Armdrücken mit Putin stellte sich als kostspielig heraus und zeigte, dass aus dem Zusammenprall zweier rücksichtsloser Politiker sofort ein Vabanquespiel wird. Die Versuche, den Vertrag von Lausanne von 1923 - zu Gebietsverteilung und Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland - für überholt zu erklären, hat eine Gegenreaktion heraufbeschworen: Die Anstrengung, in der Ägäis eine Krise mit Griechenland anzuzetteln - erst kürzlich von der griechischen Presse bestätigt -, führte zu einem deutlichen "Hört auf damit!" der US-Administration unter Trump. Und über alle moralischen Grenzen hinweg wird durch die aktuellen Nazivergleiche die Geduld Deutschlands auf die Probe gestellt. All das könnte der Popularität Erdoğans in der Türkei auf lange Sicht schaden.

Die Geschichte hat uns eine weitere Lektion gelehrt: Wenn jemand die Macht an sich reißen will und ihm das politische Arsenal an Konfrontationen ausgeht, dann wird er sich irgendwann den Schwachen und Verletzlichen zuwenden. Genau das wird Erdoğan tun, falls er irgendwann mit leeren Händen dasteht, weil er Deutschland nicht für sich und seinen Traum, alleiniger Führer der Türkei zu sein, instrumentalisieren kann. Deutschland sollte dem bevorstehenden Referendum eigentlich zum Nutzen sein. Falls Erdoğan gewinnen sollte, werden die Türkei und ihre Institutionen in den Augen des Westens komplett neu definiert werden.

Weder Apathie noch politische Eskalation helfen

Würden die Türken aber am 16. April die Verfassungsänderung ablehnen oder die Wahl unerwartet aus Panik abgesagt werden, dann wird Präsident Erdoğan alles tun, um den Ausnahmezustand nicht aufzuheben. Damit ginge die weitere Schwächung des Einflusses in Syrien einher, und Erdoğan müsste die Unterdrückung der Kurden in der Türkei noch einmal verstärken. Manche Kritiker sagen, er hoffe sogar auf einen Aufstand, um stärker daraus hervorzugehen.

Was muss angesichts dieser auch geostrategisch verheerenden Aussichten getan werden? Weder Apathie noch aggressive politische Eskalation sind nützlich. Die EU hat die Türkei lang genug ignoriert. Sie ist nie ehrlich gewesen und hat die Türken und die Kurden hingehalten. Diese Gesellschaft an der Nase herumzuführen, war wie ein Spiel mit dem Feuer, einfach weil es ein Unbehagen darüber gab, lange überfällige Lösungen für all die Probleme zu finden. Eine klare Perspektive der EU-Mitgliedschaft war die Lösung. Leider ist dieser Moment für immer verloren. Die Türkei hat eine scharfe Rechtskurve eingeschlagen und ist nun dazu verdammt, Feindseligkeit und Zweifel zu produzieren (und zu exportieren). Damit spielt Erdoğan. Er wird nicht aufhören, bis die EU eindeutig anerkennt, dass seine Werte antidemokratisch sind, oder die Verhandlungen von ihr beendet werden.

Können wir damit überhaupt noch umgehen? Ich glaube, dass wir zumindest die gesetzliche Basis dazu haben; wir benötigen das volle Engagement der guten Kräfte in der EU. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg fühlt sich nach einer Phase der Unentschlossenheit gestärkt. Zwar ist die Beziehung zur Türkei schon immer schwierig gewesen, doch das hat sich durch den Putschversuch im vergangenen Juli schlagartig geändert. Der EGMR muss nun über die Verpflichtungen der Türkei gegenüber westlichen Normen entscheiden. Der EGMR zögerte zuerst und beschäftigt sich erst seit kurzem mit diesem Fall. Er glaubte, dass das Verfassungsgericht der Republik Türkei (AYM) für die Beschwerden der Dissidenten und Journalisten verantwortlich sei, die seit Monaten inhaftiert sind und denen jeglicher Kontakt zu ihren Anwälten verwehrt ist. Das AYM blieb aber wegen Erdoğans Wut still.

Die Klagen von Inhaftierten in Straßburg könnten entscheidend werden - auch im Fall Yücel

Erst kürzlich bestätigte der EGMR die gute Nachricht, dass er sich schnellstmöglich mit zwei spektakulären Fällen befassen werde: mit der Klage von Ahmet Altan, Autor und Chefredakteur der Zeitung Taraf, und der seines Bruders Mehmet Altan, einem Akademiker; und zweitens mit dem Fall Şahin Alpay, einem Kolumnisten und einer zentralen Figur des Liberalismus in der Türkei. Beide Fälle haben den gleichen Kern: Diese "Verdächtigen" sind seit Monaten inhaftiert und gehen davon aus, dass die Anschuldigungen schlichtweg auf unbegründeten Meinungen basieren und sie unrechtmäßig gefangen gehalten werden.

Dies sind die beiden Pilotfälle der Türkei nach dem Putschversuch - und natürlich werden viele andere wie der des Welt-Journalisten Deniz Yücel hinzukommen; und man wird zu beobachten haben, wie die Erdoğan-Regierung sich dazu verhält. Die rechtliche Bewertung der massiven Unterdrückung in einem Partnerland, das mit der EU "verhandelt", wird von entscheidender Bedeutung sein, auch für die Beziehungen des Landes mit dem Westen im Ganzen.

Der Europarat hat sich gegenüber anderen Fällen wie Aserbaidschan und Russland apathisch verhalten, und dies lässt Erdoğan hoffen, dass es ihm vor Gericht ähnlich ergehen könnte. Aber er darf nicht vergessen, dass die Türkei ein ganz besonderer Fall ist. Dieser wichtige Rechtsstreit erfordert den vollen Einsatz von Juristen aus der ganzen EU. Erdoğans Regierung muss deutlich gemacht werden, dass wir nicht im Europa der 1930er Jahre leben. Das hoffen wir zumindest.

Türkisches Tagebuch

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Natalie Broschat.

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