Als die Professorin Mine Gencel Bek und ich uns zufällig im Herbst 2014 in Boston trafen, hatten wir keine Ahnung, dass wir bald Außenseiter sein würden. Wir sorgten uns damals bereits genug um das sinkende Schiff Türkei. Sie war Gastprofessorin am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und ich Stipendiat an der Harvard Kennedy School. Wir arbeiteten beide im selben Bereich: sie als angesehene Journalismusdozentin an der Universität in Ankara, zu der sie 2015 zurückkehrte, ich als Journalist.
Am 30. Januar hat Mine wutentbrannt ihren Job gekündigt. Sie konnte nicht länger den barbarischen Geist der politischen Unterdrückung ertragen, der sich in den türkischen Universitäten breitmacht. Genauso zuwider waren ihr die Scheinheiligkeit und der vorauseilende Gehorsam, der viele ihrer Kollegen und Kolleginnen erfasst hat. Eine Woche nach ihrer Kündigung wurden durch das neueste Regierungsdekret 330 Akademiker und Akademikerinnen gefeuert. Von diesen hatte die Hälfte die Petition "Academics for Peace" unterzeichnet, die eine Rückkehr der Regierung an den Verhandlungstisch mit den Kurden verlangt.
Am härtesten getroffen von dem Dekret wurden Mines Universität in Ankara und die Fakultät für Politikwissenschaften, die als wichtigste Institution und Kaderschmiede für Diplomaten und hohe Verwaltungsbeamte gilt. Diese Massenentlassung war rein politisch motiviert, und sie ist Vorbote für das, was noch auf uns zukommen wird. Als Mine ihren Namen auf der Liste der Entlassenen sah, musste sie lachen. Sie wurde gefeuert, nachdem sie gekündigt hatte! Aufgebracht packte sie ihre Sachen sowie ihre Familie und siedelte letztes Wochenende an die Universität in Siegen um.
War das mutig? Vielleicht war es etwas, das getan werden musste, um ein Leben in Würde führen zu können, so wie es viele Gelehrte in den 1930er-Jahren taten. Sie verließen Deutschland und gingen damals unter anderem in die Türkei ...
Ein Nobelpreisträger gibt ein Interview, das dann komplett zensiert wird.
Als Mine und ich jetzt telefonierten, musste sie über sich und ihre impulsive Entscheidung lachen. Was es ihr (und vielen Kollegen, die dasselbe Schicksal teilen), leichter macht, ist das Gefühl, in Deutschland willkommen zu sein.
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Noch abstoßender als die politische Unterdrückung fand sie die Heuchelei ihrer Kollegen und vieler Intellektueller. Mehr als tausend Unterzeichner der bereits erwähnten Petition wurden seit Januar 2016 vom Staat verhört. Nach dem Putschversuch im vergangenen Juli fragte Mine den Präsidenten der Universität, ob die Universität hinsichtlich der juristischen Verfolgung wegen dieser Unterschrift zu ihr stehe. Da wurde ihr folgender Ausweg angeboten: Sie solle ein Dokument unterzeichnen, das zum Ausdruck bringt, wie sehr sie es bereue, von einem "unterdrückerischen" Staat gesprochen zu haben, und dass sie um Vergebung bitte. Wie viele andere auch lehnte sie dieses Angebot ab.
Als ihren Kollegen von September an einem nach dem anderen gekündigt wurde, verschlechterte sich ihre Gesundheit zunehmend. In einem Interview mit der kleinen Zeitung Evrensel beschrieb sie die Säuberungen: "Die Zimmer auf unserem Stockwerk wurden nacheinander evakuiert, die Namensschilder noch am selben Tag entfernt. Ihre Veröffentlichungen und Namen verschwanden von der Website, als ob sie niemals an der Universität gearbeitet hätten. Ich war kurz vor dem Ersticken. Es war purer Verrat, also ging ich."
Mine fühlt sich alleingelassen von ihren ehemaligen Kollegen: "Nicht nur der Präsident oder der Dekan haben uns alleingelassen, sondern auch viele sogenannte 'Freunde', die immer behauptet hatten, dieselbe politische Gesinnung zu haben, Leute, die für Prinzipien einstehen sollen. Es gab sogar einige, die ihren entlassenen Kollegen nicht mal ihr Mitleid aussprachen. Als ich kündigte, war ich nicht überrascht über die Kollegen, die ihren Kopf wegdrehten, in ihre Zimmer rannten und die Türen schlossen, als sie mich den Gang mit meinen Kartons entlanggehen sahen. Einige hatten der Formulierung in unserer Petition nicht zugestimmt. Wir sagten: Es ist okay, wenn ihr nicht zustimmt, aber veröffentlicht wenigstens einen Text, in dem ihr unser Recht verteidigt, unsere Meinung zu äußern. Sie stimmten dem erst zu, machten dann aber doch einen Rückzieher."
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Mine wehrte sich noch etwas länger; für ihre Doktoranden, wie sie sagte. Als sie kündigte, bekam sie große Unterstützung von ihnen, im Gegensatz zu vielen ihrer linken und säkularen Kolleginnen und Kollegen. Während diese allesamt schwiegen, geschah jedoch etwas anderes. Eine ganz andere Gruppe von Verfolgten lobte sie für ihren Widerstand, all jene nämlich, die angeblich der Gülen-Bewegung Fetö angehören und deshalb verfolgt werden.
Mine ist nun verbittert. Sie hat viele Kontakte aus ihrem Telefonbuch und wie sie sagt auch aus ihrem Leben gestrichen. Ihr desillusioniertes Resümee: "Hätten wir uns nur rechtzeitig zusammengetan, damals, als Erdoğan damit anfing herumzuschreien, dann wären wir nicht an diesem jetzigen Punkt. Aber das ist nicht passiert. Das Problem mit den Medien ist ganz offensichtlich, momentan ist der beste Journalist derjenige, der keine Fragen stellt. Aber dasselbe gilt doch für die Universitäten."
Was sie hier grundsätzlich beschreibt, ist eine Art Fäulnis, die dem Faschismus den Boden bereitet. Man könnte noch viele solcher Geschichten von Verrat und Feigheit erzählen. Immer weiter abwärts bewegt sich die Türkei. Das Land der Tragödie, der Scheinheiligkeit und der Fäulnis. Was soll man noch sagen, wenn ein großes Interview mit Orhan Pamuk komplett zensiert worden ist? Von der Zeitung Hürriyet, einem Aushängeschild der Doğan Group, dessen Herausgeber erst kürzlich mit dem Pressefreiheits-Preis der Deutschen Welle ausgezeichnet worden ist. Einen Literatur-Nobelpreisträger zu zensieren, der im Interview erklärt, warum er im anstehenden Referendum "Nein" stimmen wird. Was soll man dazu noch sagen?
Das Sprichwort lautet "Der Fisch stinkt vom Kopf her." Mit diesem Wissen im Hinterkopf wird nichts mehr eine Überraschung sein.
Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Natalie Broschat.