Das Dekret fegte praktisch die gesamten Departments für Journalismus der Universität Ankara und der Marmara Universität fort. Professor Prof Yüksel Taşkın, der bei seinen Schülern sehr beliebt war, twitterte bitter: "Das ist pure politische Säuberung. Aber mein Gewissen ist rein. Lasst meine Studenten wissen, dass ich mich nie und nimmer beugen werde." Emre Tansu Keten, ein anderer Professor, schrieb: "Ich bin stolz, auf einer Liste mit denjenigen meiner Kollegen zu stehen, die rausgeworfen werden, weil sie ihre eigene Meinung gesagt haben."
Aus dem Department für Theater in der Fakultät für Sprache, Geschichte und Geografie der Universität Ankara wurden gleich fünf Professoren "entfernt". Einer von ihnen sagte, dass dort nun nur noch vier Hilfslehrer übrig geblieben seien. "Der Rest von uns hat die Petition unterschrieben. Das Institut ist jetzt dysfunktional, Bildung ist so unmöglich. Die vier übrig gebliebenen Kollegen werden nicht im Stande sein, den Lehrbetrieb aufrechtzuerhalten. Und ich fürchte, das ist noch nicht alles gewesen. Es ist schrecklich, wenn man nur darauf wartet, als Nächster entlassen zu werden."
Ein anderer Lehrer twitterte: "Ich wurde nur deshalb entlassen, weil ich gesagt habe, dass ich einen Krieg in diesem Land ablehne und dass ich mir Frieden wünsche. (...) Ich wünsche mir immer noch Frieden ..."
Das Dekret verfolgt die Absicht, die Meinungsfreiheit zu schlachten
Dass das Dekret die Absicht verfolgt, die Meinungsfreiheit zu schlachten, ist selbsterklärend. Beeindruckend aber ist, mit welcher Schonungslosigkeit es durchgesetzt wird. Eine der Betroffenen, eine ältere Akademikerin, ist eine Legende in ihrer Profession. Professorin Öget Öktem Tanör war die erste Neuropsychologin der Türkei. Sie war die Ehefrau des nun verstorbenen Professors Bülent Tanör, ebenso eine Legende auf seinem Gebiet, dem Verfassungsrecht. Er hat als Teil der liberalen Linken sein ganzes Leben dafür gekämpft, dass die türkische Verfassung demokratischer wird - erfolglos.
Professor Kaboğlu gehörte derselben Ideenschule an. Er hat sich jahrelang selbstlos für die Demokratie eingesetzt. Vor zehn Jahren wurde er von dem damaligen Premierminister Erdoğan gebeten, einen Report über Minderheitenrechte zu verfassen, darüber, wie man geschehene Gräueltaten aufarbeiten und die Macht in der Türkei dezentralisieren könne. Er arbeitete intensiv an dem Report und gab das Ergebnis ab. Monate später wurde er gemeinsam mit seinem Mitarbeiter wegen "Beleidigung des Türkischen" angeklagt. Die Anklage wurde fallen gelassen, ebenso wie der wertvolle Report, vergraben in Vergessenheit.
Hier sind wir also, dachte ich mir, als ich die aktuelle Säuberungsliste las. So zeigt dieser machthungrige, primitive Staat seinen hart arbeitenden, unabhängigen Intellektuellen seine Dankbarkeit: mit Entfremdung und Bestrafung. Mit jedem Dekret gleicht dieser Staat mehr und mehr dem Deutschland der Dreißigerjahre, das seine Elite am Ende aus seinen Grenzen verjagt hat.
Ich bin mir sicher, dass unsere "entfernten" Akademiker keinen Job mehr in ihrer Heimat bekommen werden. Die Türkei verliert ihr Blut, und wir alle wissen, wer dafür verantwortlich ist.
Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Julia Niemann.
- "Jetzt droht eine eiserne Zeit" (I)
- "Der Türkei droht das Ende eines unabhängigen Journalismus" (II)
- "Wir haben es mit massiven 'Säuberungen' zu tun" (III)
- "Die Verhaftungswellen hören nicht auf" (IV)
- "Ausnahme ist kein Zustand" (V)
- "Erdoğan treibt die türkischen Eliten ins Ausland" (VI)
- "Die Hexenjagd hat begonnen" (VII)
- "Erdoğan regiert per Dekret - was das heißt, weiß in der Türkei jeder" (VIII)
- "Erdoğan vollzieht den 'zivilen Staatsstreich'" (IX)
- "Erdoğan begünstigt Manipulation und Desinformation" (X)
- "Schweigen ist jetzt der Feind der Demokratie" (XI)
- "Die Türkei nimmt Angehörige in Geiselhaft" (XII)
- "'Sie werden sterben wie Kanalratten'" (XIII)
- "Wo sind die AKP-Mitglieder, die am Putsch teilgenommen haben?" (XIV)
- "Italien sollte sich lieber um die eigene Mafia kümmern" (XV)
- "Warum man Erdoğan nicht trauen kann" (XVI)
- "Du bist als nächstes dran" (XVII)
- "Wir wollen Exekutionen" (XVIII)
- "Jeder ist verdächtig" (XIX)
- "Exodus der türkischen Elite" (XX)
- "Ist es ein Verbrechen, mit einem Reporter verheiratet zu sein?" (XXI)
- "Erdoğan hält die Massen in explosiver Hypnose" (XXII)
- "Es ist Zeit aufzuwachen" (XXIII)
- Türkische Chronik (I): Wie die AKP Verschwörungstheorien über den Putsch befeuert
- Enteignungen wie im Osmanischen Reich (II)
- Haftbefehl ohne Grund (III)
- Man muss die Dinge beim Namen nennen (IV)
- Die alten Foltermethoden sind zurück in der Türkei (V)
- "Man sollte uns unseren richtigen Job machen lassen" (VI)
- Türkei zieht Schrauben der Unterdrückung weiter an (VII)
- "Bedauerlich, dass wir Journalisten das Hauptthema der Nachrichten sind"(VIII)
- Erdoğan plant eine Islamisierung der Schulen (IX)
- Was geschah wirklich in der Nacht vom 15. Juli? (X)
- Die Türkei steht kurz vor einem Bürgerkrieg (XI)
- Wie lange wird die EU der schrecklichen Eskalation standhalten? (XII)
- Verhaftete türkische Journalisten sollten Ehrenbürger werden (XIII)
- Die Kurden verlieren ihre Heimat (XIV)
- Erdoğan fegt sie einfach weg (XV)
- Erdoğan und Trump - Die Zeichen stehen auf hässliche Realpolitik (XVI)
- War der Militärputsch vorhersehbar? (XVII)
- Demokratie in der Türkei - wenn alles zerrinnt (XVIII)
- Russland wird seine Chance nutzen (XIX)
- Das Jahr eines intensiven Albtraums (XX)
- Die AKP erntet, was sie gesät hat (XXI)
- Erdoğan nähert sich seinem Ziel (XXII)
- Der Todeskampf des türkischen Schulsystems (XXIII)
- Jazz war Aktionismus (XXIV)
- Scheidung - und dann? (XXV)
- Sie wollen alle Fremdkörper "entfernen" (XXVI)
- Das Land der Fäulnis (XXVII)
- Nur noch ein kurzer Weg zum Faschismus (XXVIII)
- Die Presse als erstes Angriffsziel (XXIX)
- Prozess als Farce (XXX)
- Die neuen Jungtürken aus Köln (XXXI)
- Berufsverbot für Akademiker (XXXII)
- Dinner mit den Underdogs (XXXIII)
- Das Bangen vor dem Referendum (XXXIV)
- Mit der Türkei, wie wir sie kennen, ist es vorbei (XXXV)
- Die Unterdrückten werden ihre innere Stärke wiederfinden (XXXVI)
- Man muss auf eine demokratische Alternative hoffen (XXXVII)
- Wie weit kann man die Grausamkeit noch treiben? (XXXVIII)
- Bücher in die Verbannung (XXXIX)
- Rechtfertigen Erdoğans Schikanen einen Hungerstreik? (XL)
- Wer gegen Erdoğan ist, muss hungern (XLI)
- Jetzt wurde auch noch ein UN-Richter verurteilt (XLII)
- Das Messer hat den Knochen getroffen (XLIII)
- "Es wird ein Tag kommen, an dem das Land explodiert" (XLIV)
- Die Türkei leidet an einem geistigen Ausnahmezustand (XLV)
- Was wir verloren haben, ist schwer wieder herzustellen (XLVI)
- Erdoğan ist das personifizierte Problem der Türkei (XLVII)
- Warum im Ausland lebende Türken an ihrer Liebe zu Erdoğan festhalten (XLVIII)
- Erdoğans neuer Staat naht (XLIX)