Türkische Chronik (XXV):Scheidung - und dann?

Türkische Chronik (XXV): Diplomatischer Balanceakt: Angela Merkel zu Besuch beim türkischen Präsidenten Erdoğan.

Diplomatischer Balanceakt: Angela Merkel zu Besuch beim türkischen Präsidenten Erdoğan.

(Foto: AFP)

Kaum ein Land arbeitet so verbissen an der Abschaffung der Demokratie wie die Türkei. Doch eine Abkehr vom EU-Beitritt könnte negative Folgen für beide Seiten haben.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

"Werden allgemeine Werte und internationale Gesetze beiseitegeschoben, werden globale Angelegenheiten gewaltsam geregelt." Dieser starke Satz stammt aus dem Bericht "Populists and Autocrats: The Dual Threat to Democracy", der amerikanischen NGO Freedom House (FH). Die Studie untersucht den Zustand globaler Freiheiten im Jahre 2017 und stellt eine zentrale Frage in den Raum: Wie sollen die führenden Demokratien in einer Zeit, in der die Nachkriegsordnung auf brutale Art und Weise auf den Kopf gestellt wird, mit denen sprechen, die alles unternehmen, diese Demokratien zu unterminieren?

Zur Person

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge.

Der aktuelle FH-Bericht ist alarmierend, und er ist düsterer als alle vorangehenden Berichte. Im elften Jahr in Folge wird der Rückgang von Freiheiten und demokratischen Strukturen konstatiert. Diesmal aber hat der antidemokratische Virus beeindruckende Fortschritte gemacht. Im Bericht heißt es, dass, "anders als in den Jahren zuvor, der Niedergang nicht nur in den Autokratien und Diktaturen auszumachen ist. 2016 führten freie Länder, anerkannte Demokratien, die Liste an. Fast ein Viertel der Länder, in denen sich die Situation für Demokratie und Freiheit verschlechtert hat, liegen in Europa."

Die Türkei befindet sich im freien Fall

Die Autoren Arch Puddington und Tyler Roylance fahren fort: "Infolge der Entwicklungen des letzten Jahres ist es nicht mehr möglich, zuversichtlich über die lange Lebensdauer der EU zu reden; nicht davon, dass der amerikanischen Außenpolitik Demokratie und Menschenrechte wirklich wichtig wären; nicht über die Widerstandskraft der demokratischen Institutionen in Zentraleuropa, Brasilien oder Südamerika. Man darf nicht mal mehr erwarten, dass der Angriff auf die Rohingya-Minderheit in Myanmar oder willkürliche Bombenangriffe im Jemen internationale Kritik von demokratischen Regierungen und UN-Menschenrechtsorganisationen nach sich zieht."

Natürlich sticht die Türkei heraus. Besonders dadurch, dass sie Beitrittsverhandlungen mit der EU führt, zumindest auf dem Papier. In den FH-Berichten zur Freiheit der Medien und des Internets wurde die Türkei bereits als unfreies Land gekennzeichnet. Sie steht auf Platz zwei der Liste der sich konstant verschlimmernden Länder. In den letzten Jahren hat sie laut FH insgesamt 28 Punkte verloren, 15 davon allein im letzten Jahr. Die Türkei befindet sich im freien Fall und verwandelt sich in rasender Geschwindigkeit in einen Unterdrückungsstaat - und jeder weiß warum.

Der Bericht zeigt, wie die großen internationalen Organisationen (Nato, UN, EU) zu bröckeln beginnen. Um das Ausmaß dieser spontanen, globalen Veränderung zu verstehen, sollte man sich ansehen, wie rau der internationale Dialog wurde und wie die Ausdrucksweisen der Demokratien und der autokratischen Führungen immer weiter auseinanderklaffen.

Wie geht man um mit diplomatischer Rücksichtslosigkeit?

Das kann man nirgends so gut sehen wie in der Türkei. In den letzten Jahre prallten im Dialog zwischen der EU und der Türkei eine demokratische und eine, nun ja, unfreundliche Ausdrucksweise aufeinander. Die EU musste eine bittere Niederlage einstecken bei dem Versuch, eine gemeinsame Basis zu finden. Das Gegenteil ist geschehen. Das liegt daran, dass der türkische Präsident Erdoğan sich von Putin abschaute, wie der mit der EU umspringt. Erdoğan verstand, wie gut das funktionierte.

Als dann aber die Türkei einen russischen Jet an der syrischen Grenze abschoss, krachten diese beiden Autokraten aufeinander. Putin reagierte mit harten Sanktionen und schärfster Rhetorik, so lange, bis Erdogan irgendwann nachgeben musste. Wie Russland in dieser Situation einen Gegner - und ein Mitglied der Nato - näher an sich band, ist ganz symptomatisch für Ton, Taktik und Umgangsformen der gerade entstehenden neuen Welt.

Das ist das Dilemma der stabilen Demokratien. Wie geht man um mit erbitterter Konfrontationspolitik und diplomatischer Rücksichtslosigkeit? Wie weit gibt man nach? Und wenn man dem autokratischen Druck entgegenkommt - inwieweit spielt man damit antidemokratischen Strömungen im eigenen Land in die Hände?

Für politische Zyniker ist Erdoğan der ideale Gegner. Sie jubeln über seinen reaktionären Kurs

Während der FH-Bericht also einen ziemlich beunruhigenden Schnappschuss zur Lage der Welt zeigt, wartet die EU auf das Urteil der Venedig-Kommission des Europarates. Dies entscheidet über die Vereinbarkeit der europäischen Kriterien mit dem Referendum in der Türkei, welches die Identität des Landes verändern wird.

Man kann ahnen, wie das Ergebnis der Kommission ausfallen wird. Der ehemalige EU-Diplomat Marc Pierini schrieb sinngemäß, durch das Referendum würde sich die Türkei in einen autokratischen, konservativ-religiösen Staat verwandeln, der nichts mehr mit der säkularen Türkei der letzten knapp 100 Jahre zu tun hätte.

Zyniker sehen das anders: Sie glauben, Erdoğan habe sich zum idealen Gegenspieler der EU entwickelt. Er macht nicht nur seinem Ärger und seiner Abneigung gegenüber der EU Luft, sondern bestätigte mit innenpolitischen Maßnahmen all jene, die schon seit Längerem argumentieren, dass die Türkei mit ihren seltsamen Werten eh nie zu Europa gehörte. Hinter verschlossenen Türen, in den entscheidenden Kreisen Europas, taucht Erdoğan als Garant für den gestoppten Flüchtlingsstrom auf: Seine letzte Erklärung, Hunderttausende Syrer einzubürgern, und die verordneten Reisebeschränkungen für türkische Bürger dürften in den Chefetagen der EU zu Freudentänzen geführt haben. Zyniker liegen auch richtig in der Annahme, dass die Türkei alle Chancen auf einen EU-Beitritt verspielt hat, sobald Erdoğan sein Referendum durchbekommt.

"Umgekehrt sei der türkische Präsident wahrscheinlich sehr erleichtert über den Wegfall der Einhaltung aller EU-Rechtsstaatlichkeit, die im Falle einer Einführung seine Macht behindern würden", so Pierini. "Falls dies das Kalkül ist, würden beide Seiten schnell die negativen Folgen einer solchen Scheidung kennenlernen."

"Verlieren wir die Türkei?" Die Frage wurde in Europa in den vergangenen Jahren oft gestellt. Es scheint so, als ob man sie bald mit Ja beantworten muss. Merkel weiß das. Die andere Frage bleibt: Wie lautet die neue Türkei-Strategie?

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Natalie Broschat.

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