Vergeblich. Die AKP regiert heute, als existiere das europäische Gericht nicht. Jedes Mal gelangt die gleiche, offizielle, automatische Antwort von der staatlichen Einrichtung zur Verwaltung religiöser Angelegenheiten, Diyanet, nach Straßburg: Der Europäische Gerichtshof sei nicht imstande, den türkischen Umgang mit Bildung angemessen zu "verstehen". Kurz gesagt: Die Türkei ignoriert den EGMR routiniert, eine Streitfrage, die ungeklärt bleiben wird.
Die jüngsten Änderungen in den türkischen Lehrplänen haben mich deshalb kaum überrascht. Mit den Ankündigungen des Bildungsministers Ismet Yılmaz hat der Rückwärtstrend neue Fahrt aufgenommen. Das neue Maßnahmenpaket, das nächsten Monat in Kraft treten wird, enthält Passagen in Religionsbüchern, die Begriffe wie "Säkularismus", "Positivismus", "Wiedergeburt", "Nihilismus" und "Atheismus" unter dem Überbegriff "problematische Überzeugungen" versammeln und als "Krankheiten" bezeichnen.
In religiösen höheren Schulen, sogenannten "İmam Hatip"-Schulen, wurde der "Dschihad", der heilige Krieg, in die Schulbücher aufgenommen, in einem Kapitel, das mit "Kampf auf dem Weg Allahs: Dschihad" übertitelt ist. In diesen Schulen wurde der Arabischunterricht als verpflichtend eingeführt. Der am tiefsten greifende Eingriff ist aber die Streichung der Evolutionstheorie aus den gymnasialen Lehrplänen.
Auch die Namen der Gründerväter der Republik wurden radikal "überarbeitet". Die Schüler werden nichts über İsmet İnönü lernen, Atatürks Nachfolger. Es ist zu einem großen Teil sein Verdienst, dass die Türkei bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges neutral geblieben ist. Mit ihm verschwindet auch Atatürk selbst immer mehr aus den Lehrplänen, reduziert auf das Allernötigste.
Der Minister spielte diese Maßnahmen herunter, er sagte, es handele sich nur um einen Entwurf, offen für spätere Anpassungen. Das Misstrauen der Opposition gegenüber der Regierung sitzt inzwischen aber so tief, dass diese es für selbstverständlich hält, dass ihre Einwände ignoriert werden. Die Abwesenheit unabhängiger Medien hilft der offenen Debatte nicht.
Sogar moderate Islam-Vertreter warnen, das Schulsystem werde "von Salafismus beschlagnahmt"
Kürzlich kritisierte ein Experte des anatolischen Islam die Veränderungen. Er argumentierte, dass viele Vertreter des islamischen Klerus die Evolutionstheorie unterstützten, und kam zu dem Schluss, dass "das türkische Schulsystem jetzt von Salafisten beschlagnahmt" wird: "Was sie tun, ist nichts anderes, als den Salafismus zu implementieren, eine Lehre, die sie in Syrien gleichzeitig bekämpfen", sagte er. "Sie zerstören damit nicht nur den Säkularismus, sondern auch noch den Islam selbst."
Mir bleibt nicht viel mehr, als zu klagen - voller Wehmut gegenüber der alten Zeit, in der wir als Schüler trotz Elend und Armut freie Entscheidungen treffen konnten. Das wird bald endgültig vorbei sein, dies ist nur ein Todeskampf.
Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Julia Niemann.
- "Jetzt droht eine eiserne Zeit" (I)
- "Der Türkei droht das Ende eines unabhängigen Journalismus" (II)
- "Wir haben es mit massiven 'Säuberungen' zu tun" (III)
- "Die Verhaftungswellen hören nicht auf" (IV)
- "Ausnahme ist kein Zustand" (V)
- "Erdoğan treibt die türkischen Eliten ins Ausland" (VI)
- "Die Hexenjagd hat begonnen" (VII)
- "Erdoğan regiert per Dekret - was das heißt, weiß in der Türkei jeder" (VIII)
- "Erdoğan vollzieht den 'zivilen Staatsstreich'" (IX)
- "Erdoğan begünstigt Manipulation und Desinformation" (X)
- "Schweigen ist jetzt der Feind der Demokratie" (XI)
- "Die Türkei nimmt Angehörige in Geiselhaft" (XII)
- "'Sie werden sterben wie Kanalratten'" (XIII)
- "Wo sind die AKP-Mitglieder, die am Putsch teilgenommen haben?" (XIV)
- "Italien sollte sich lieber um die eigene Mafia kümmern" (XV)
- "Warum man Erdoğan nicht trauen kann" (XVI)
- "Du bist als nächstes dran" (XVII)
- "Wir wollen Exekutionen" (XVIII)
- "Jeder ist verdächtig" (XIX)
- "Exodus der türkischen Elite" (XX)
- "Ist es ein Verbrechen, mit einem Reporter verheiratet zu sein?" (XXI)
- "Erdoğan hält die Massen in explosiver Hypnose" (XXII)
- "Es ist Zeit aufzuwachen" (XXIII)
- Türkische Chronik (I): Wie die AKP Verschwörungstheorien über den Putsch befeuert
- Enteignungen wie im Osmanischen Reich (II)
- Haftbefehl ohne Grund (III)
- Man muss die Dinge beim Namen nennen (IV)
- Die alten Foltermethoden sind zurück in der Türkei (V)
- "Man sollte uns unseren richtigen Job machen lassen" (VI)
- Türkei zieht Schrauben der Unterdrückung weiter an (VII)
- "Bedauerlich, dass wir Journalisten das Hauptthema der Nachrichten sind"(VIII)
- Erdoğan plant eine Islamisierung der Schulen (IX)
- Was geschah wirklich in der Nacht vom 15. Juli? (X)
- Die Türkei steht kurz vor einem Bürgerkrieg (XI)
- Wie lange wird die EU der schrecklichen Eskalation standhalten? (XII)
- Verhaftete türkische Journalisten sollten Ehrenbürger werden (XIII)
- Die Kurden verlieren ihre Heimat (XIV)
- Erdoğan fegt sie einfach weg (XV)
- Erdoğan und Trump - Die Zeichen stehen auf hässliche Realpolitik (XVI)
- War der Militärputsch vorhersehbar? (XVII)
- Demokratie in der Türkei - wenn alles zerrinnt (XVIII)
- Russland wird seine Chance nutzen (XIX)
- Das Jahr eines intensiven Albtraums (XX)
- Die AKP erntet, was sie gesät hat (XXI)
- Erdoğan nähert sich seinem Ziel (XXII)
- Der Todeskampf des türkischen Schulsystems (XXIII)
- Jazz war Aktionismus (XXIV)
- Scheidung - und dann? (XXV)
- Sie wollen alle Fremdkörper "entfernen" (XXVI)
- Das Land der Fäulnis (XXVII)
- Nur noch ein kurzer Weg zum Faschismus (XXVIII)
- Die Presse als erstes Angriffsziel (XXIX)
- Prozess als Farce (XXX)
- Die neuen Jungtürken aus Köln (XXXI)
- Berufsverbot für Akademiker (XXXII)
- Dinner mit den Underdogs (XXXIII)
- Das Bangen vor dem Referendum (XXXIV)
- Mit der Türkei, wie wir sie kennen, ist es vorbei (XXXV)
- Die Unterdrückten werden ihre innere Stärke wiederfinden (XXXVI)
- Man muss auf eine demokratische Alternative hoffen (XXXVII)
- Wie weit kann man die Grausamkeit noch treiben? (XXXVIII)
- Bücher in die Verbannung (XXXIX)
- Rechtfertigen Erdoğans Schikanen einen Hungerstreik? (XL)
- Wer gegen Erdoğan ist, muss hungern (XLI)
- Jetzt wurde auch noch ein UN-Richter verurteilt (XLII)
- Das Messer hat den Knochen getroffen (XLIII)
- "Es wird ein Tag kommen, an dem das Land explodiert" (XLIV)
- Die Türkei leidet an einem geistigen Ausnahmezustand (XLV)
- Was wir verloren haben, ist schwer wieder herzustellen (XLVI)
- Erdoğan ist das personifizierte Problem der Türkei (XLVII)
- Warum im Ausland lebende Türken an ihrer Liebe zu Erdoğan festhalten (XLVIII)
- Erdoğans neuer Staat naht (XLIX)