Türkische Chronik (XXIII):Der Todeskampf des türkischen Schulsystems

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Indoktrinierung statt Freiheit - bald in allen Klassenzimmern? Eine Mittelschule in der Provinz Van, im äußersten Osten der Türkei. (Foto: Alamy/mauritius images)

Schulen werden islamisiert, die Evolutionslehre wird aus den Lehrplänen gestrichen: Die säkulare Türkei gehört der Vergangenheit an.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Diese Tage sind lange her, fast vergessen. Es war in den späten Sechzigerjahren. In einem Gymnasium in Eskişehir, einer anatolischen Industriestadt, habe ich mit einem Schulfreund Zeit außerhalb der Klasse verbracht, ohne unsere Mitschüler. Mein Freund hieß Haluk, glaube ich - ein stiller, bedachter Junge.

Es war noch die "alte Türkei", die beharrlich daran arbeitete, ein säkulares Leitbild in der Gesellschaft zu verankern, ganz im Sinne des Gründers der Republik, Mustafa Kemal Atatürk. In den Grundschulen wurde Religion nicht unterrichtet. Später durfte man selbst wählen, ob man den Religionsunterricht besuchen möchte.

Ich erinnere mich daran, mit meinen Eltern darüber gesprochen zu haben. Mein Vater sagte: "Es ist deine Entscheidung, aber verbring die freien Stunden mit etwas Nützlichem. Mach keinen Unsinn." Diese Haltung war normal in säkularen Familien und hat sich später in ganz Anatolien verbreitet. Niemand hat versucht, uns Kinder davon zu überzeugen, den Religionsunterricht zu besuchen. Nur ein einziges Mal traf uns der Lehrer, ein sanftmütiger Mann mittleren Alters, kichernd auf dem Gang, bevor er das Klassenzimmer betrat, und fragte uns freundlich: "Seid ihr euch sicher? Wenn ihr eure Meinung ändert, seid ihr jederzeit willkommen ..."

Im Leben nicht, dachten wir uns, und hatten eine großartige Zeit. Draußen.

Als die AKP ihren Kurs radikal umkehrte, schien es niemanden mehr zu kümmern

Über Jahrzehnte erhielt die Türkei dieses System aufrecht, trotz politischer und sozialer Krisen, die das Land beutelten, bis zum Militärputsch im Jahr 1980. Es waren die Generäle, die in ihrem Vorhaben, die gesamte Linke des Landes zu zerstören, entschieden, "den Feind des Feindes" zu besänftigen, nämlich die fromme, stille, kulturell konservative Mehrheit des Landes. Dies geschah, indem ein verpflichtender Religionsunterricht eingeführt wurde, was natürlich mit großem Entzücken beantwortet wurde. Das war auf gewisse Art und Weise der Anfang vom Niedergang der säkularen Türkei. Eine graduelle, aber entschiedene Islamisierung der Schulbildung, die sich seit etwa dem Jahr 2010 noch beschleunigt hat.

Damals musste sich die islamisch-konservative AKP-Regierung noch vorsichtig verhalten. Sich den "Kopenhagener Kriterien" für einen EU-Beitritt anzupassen, bedeutete, sich an die Europäische Menschenrechtskonvention zu halten, was einen äußerst umsichtigen Umgang mit dem Glauben oder Nicht-Glauben des Individuums erfordert.

Als die AKP ihren Kurs nach den Wahlen 2011 schließlich radikal umkehrte, schien es niemanden mehr zu kümmern. Die Religionsbücher wurden geschickt so verändert, dass die sunnitischen Lehren darin dominierten, und der verpflichtende Religionsunterricht wurde zu einer Tortur für alevitische Eltern wie auch für urban-säkulare, nicht-gläubige, atheistische, agnostische Familien oder solche, die kulturelle Muslime waren, den Glauben aber nicht praktizierten.

In der Hauptsache waren es Aleviten, die im letzten Jahrzehnt mehrmals versuchten, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen die türkische Regierung zu klagen, mit der Forderung, die freie Wahl beim Religionsunterricht wieder einzuführen - sie bezogen sich damit auf die gängige Praxis in vielen anderen EU-Staaten. Der EGMR gab ihnen in jedem Fall recht.

Vergeblich. Die AKP regiert heute, als existiere das europäische Gericht nicht. Jedes Mal gelangt die gleiche, offizielle, automatische Antwort von der staatlichen Einrichtung zur Verwaltung religiöser Angelegenheiten, Diyanet, nach Straßburg: Der Europäische Gerichtshof sei nicht imstande, den türkischen Umgang mit Bildung angemessen zu "verstehen". Kurz gesagt: Die Türkei ignoriert den EGMR routiniert, eine Streitfrage, die ungeklärt bleiben wird.

Die jüngsten Änderungen in den türkischen Lehrplänen haben mich deshalb kaum überrascht. Mit den Ankündigungen des Bildungsministers Ismet Yılmaz hat der Rückwärtstrend neue Fahrt aufgenommen. Das neue Maßnahmenpaket, das nächsten Monat in Kraft treten wird, enthält Passagen in Religionsbüchern, die Begriffe wie "Säkularismus", "Positivismus", "Wiedergeburt", "Nihilismus" und "Atheismus" unter dem Überbegriff "problematische Überzeugungen" versammeln und als "Krankheiten" bezeichnen.

In religiösen höheren Schulen, sogenannten "İmam Hatip"-Schulen, wurde der "Dschihad", der heilige Krieg, in die Schulbücher aufgenommen, in einem Kapitel, das mit "Kampf auf dem Weg Allahs: Dschihad" übertitelt ist. In diesen Schulen wurde der Arabischunterricht als verpflichtend eingeführt. Der am tiefsten greifende Eingriff ist aber die Streichung der Evolutionstheorie aus den gymnasialen Lehrplänen.

Auch die Namen der Gründerväter der Republik wurden radikal "überarbeitet". Die Schüler werden nichts über İsmet İnönü lernen, Atatürks Nachfolger. Es ist zu einem großen Teil sein Verdienst, dass die Türkei bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges neutral geblieben ist. Mit ihm verschwindet auch Atatürk selbst immer mehr aus den Lehrplänen, reduziert auf das Allernötigste.

Der Minister spielte diese Maßnahmen herunter, er sagte, es handele sich nur um einen Entwurf, offen für spätere Anpassungen. Das Misstrauen der Opposition gegenüber der Regierung sitzt inzwischen aber so tief, dass diese es für selbstverständlich hält, dass ihre Einwände ignoriert werden. Die Abwesenheit unabhängiger Medien hilft der offenen Debatte nicht.

Sogar moderate Islam-Vertreter warnen, das Schulsystem werde "von Salafismus beschlagnahmt"

Kürzlich kritisierte ein Experte des anatolischen Islam die Veränderungen. Er argumentierte, dass viele Vertreter des islamischen Klerus die Evolutionstheorie unterstützten, und kam zu dem Schluss, dass "das türkische Schulsystem jetzt von Salafisten beschlagnahmt" wird: "Was sie tun, ist nichts anderes, als den Salafismus zu implementieren, eine Lehre, die sie in Syrien gleichzeitig bekämpfen", sagte er. "Sie zerstören damit nicht nur den Säkularismus, sondern auch noch den Islam selbst."

Mir bleibt nicht viel mehr, als zu klagen - voller Wehmut gegenüber der alten Zeit, in der wir als Schüler trotz Elend und Armut freie Entscheidungen treffen konnten. Das wird bald endgültig vorbei sein, dies ist nur ein Todeskampf.

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Julia Niemann.

© SZ vom 20.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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