Im Moment werde ich oft gefragt, ob die Ermordung des russischen Botschafters in Ankara und das Massaker in Istanbul eine Wende des dschihadistischen Terrors in der Türkei markieren. Und wenn ja, warum das so sei. Die erste Frage bejahe ich, zur Beantwortung der zweiten nenne ich zwei Hauptgründe: die Wiederannäherung der Regierungspartei AKP an das Regime des syrischen Machthabers Baschar al-Assad über Russland, und den Beinahe-Kollaps des türkischen Geheimdienstes.
Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge.
Seit Juli 2015, als Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Friedensgespräche mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK beendete, hat es in der Türkei eine scheinbar unaufhaltsame Serie von Angriffen auf Zivilisten und Sicherheitskräfte gegeben. Nach dem Ende der Unterstützung der bewaffneten syrischen Opposition im vergangenen Jahr scheint die Lage besonders drastisch. Fast 600 Zivilpersonen starben, mehr als 800 Sicherheitsbeamte, weil sie in 25 Terrorakten gezielt angegriffen wurden. 21 dieser Vorfälle fanden 2016 statt.
Das jüngste Blutbad ereignete sich in der Silvesternacht in einem der elegantesten Nachtklubs von Istanbul. Die Tat folgte bekannten Mustern, doch etwas ist neu: Bisher richtete sich dschihadistischer Terror in türkischen Städten gegen Kurden, Aleviten, Linksaktivisten und ausländische Touristen. Diesmal zielte er "direkt auf die Lebensart der Menschen", wie Cevat Öneş sagt, ein früherer Mitarbeiter des staatlichen Nachrichtendienstes.
Dem Massaker vorausgegangen war eine Kampagne, die dazu aufrief, den Jahreswechsel nicht zu feiern. Ein paar junge Schläger prügelten in Einkaufszentren symbolisch die Weihnachtsmänner. Das Präsidium für Religionsangelegenheiten Diyanet verurteilte in einer Predigt die "verschwenderischen Ausgaben" für das Neujahrsfest. So viel zum Hintergrund der unbegreiflichen Tatsache, dass ein einzelner Schütze in Istanbul trotz fast 20 000 Polizisten im Einsatz so mühelos einen Nachtklub betreten konnte.