Türkische Chronik (XX):2016 zeigte, wie apathisch große Teile der türkischen Elite waren

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Vor einigen Tagen wurde Fatma Alpay und ihrer Tochter Elvan Alpay mitgeteilt, dass der Strom in ihrer Wohnung nach dem Ablauf einer kurzen Frist abgeschaltet wird. Der Grund? Fatma Alpays Vater ist seit fast fünf Monaten im Gefängnis. Er ist eine der wichtigsten liberalen Stimmen des Landes. Er führte gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Friedrich-Naumann-Stiftung verschiedene Projekte zu Demokratie und Pressefreiheit durch. Dieser gebrechliche 73-jährige Publizist und Akademiker wird bezichtigt, sich an terroristischen Umtrieben beteiligt zu haben. In der letzten Woche wurden seine Besitztümer und Bankkonten gepfändet. Das alles, obwohl ein Urteil gegen ihn eigentlich nie zustande kommen könnte. Auch Alpays Frau ist es nicht erlaubt, Geld vom Konto abzuheben, obwohl das Konto auch auf ihren Namen läuft.

Dieselbe Pfändung betraf noch 53 andere Intellektuelle, darunter den international bekannten Dichter und Philosophen Hilmi Yavuz. Weiteres Salz wurde in die Wunden gestreut, indem auch die Auszahlungen der Rente plötzlich blockiert wurden. Auch die Familien der Verhafteten werden Grausamkeiten ausgesetzt. Ich sprach mit einem Menschenrechtsanwalt. "Die Pfändungen sind das eine", sagt er. "Ich gehe davon aus, dass die Staatsanwälte sehr lange Haftstrafen für die eingesperrten Intellektuellen fordern werden. Ich hoffe, ich liege falsch."

Einigen Berichten zufolge wurden Reporter der Tageszeitung Cumhuriyet tagelang in Gewahrsam gehalten, wo es keine Heizung gab. Einer von ihnen, Kadri Gürsel, der auch die Türkei im International Press Institute vertritt, bat seine Frau, ihm einen Mantel mitzubringen. Das wurde ihr nicht erlaubt. Als Begründung hieß es, das "entspricht nicht den Standards".

Türkische Journalisten verschicken gerade Neujahrs-Grußkarten an ihre eingesperrten Kollegen. Dabei erfuhren sie, dass es verboten ist, Karten an Ahmet Altan, den ehemaligen Chefredakteur der Tageszeitung Taraf, und an seinen Bruder Mehmet Altan, einen Professor und Publizisten, zu verschicken. Zuletzt wurden fünf Journalisten eingesperrt, die angeblich Teil einer Hackerbande sind. Diese soll auf E-Mails des Energieministers Berat Albayrak, der zugleich Erdoğans Schwiegersohn ist, zugegriffen haben. Gestern wurde der Journalist Ahmet Şık verhaftet. Er saß schon zwischen 2011 und 2012 im Gefängnis wegen eines Buches, indem er die Infiltrierung des Staates durch Gülenisten dokumentierte. Zuletzt versuchte er, die Hintergründe des Putschversuches zu ermitteln recherchierte zum Anschlag auf den russischen Botschafter Karlow. Die Freilassung der Schriftstellerinnen Aslı Erdoğan und Necmiye Alpay sind daher nur begrenzt gute Nachrichten. Die Zahl der inhaftierten Journalisten beträgt nun somit 152. Das sind rund 60 Prozent aller Journalisten weltweit, die zurzeit in Haft sind.

Ein Mann denunzierte eine Frau als Terroristin, nachdem sie seinen Heiratsantrag ablehnte

Der Leiter der Cafeteria bei Cumhuriyet kam vor einigen Tagen zu spät zur Arbeit. Jemand vom Sicherheitspersonal fragte, warum. Der Mann sagte, er habe so lange nach einem Parkplatz suchen müssen. Da Präsident Erdoğan an einer Veranstaltung in der Nähe teilnahm, waren etliche Straßen gesperrt. Die Wache versuchte einen Scherz: "Wenn er hier vorbeikommt, kannst du ihm ja einen Tee servieren." Der Betreiber der Cafeteria antwortete: "Das kommt nicht infrage." Wenige Stunden später wurde er dafür verhaftet.

Aus Izmir wird berichtet, wie ein Mann einer Frau einen Heiratsantrag machte. Sie lehnte ab, woraufhin er zur Polizei ging und behauptete, dass sie eine gülenistische Terroristin sei. Zwei Wissenschaftler der Turgut-Özal-Universität wurden kürzlich an der griechischen Grenze festgenommen. Sie versuchten, das Land zu verlassen. Es war ihr nächster Verwandter, der die Polizei zuvor über den Fluchtversuch informierte. Das sind Geschichten, die zeigen, wie die Menschen seelisch verderben. Und es erinnert stark an das, was in früheren Diktaturen passierte.

2016 zeigte auch, wie apathisch und unsensibel große Teile der türkischen Elite waren, als der Autoritarismus sich mit aller Kraft entfaltete. Eines der jüngsten Opfer der Verhaftungswelle ist Professor Iştar Gözaydın, ein Religionssoziologe, Experte bei der staatlichen Religionsbehörde Diyanet. Keine einzige Stimme des Protests war aus den Reihen der Wissenschaftler zu vernehmen. Angst und Einschüchterung erreichen gerade einen Zenit. Meine Hoffnung für 2017 ist, dass wir unsere Kraft bewahren und weiter für Menschenwürde und Freiheit kämpfen. Das wird mehr gesunden Menschenverstand und Resilienz verlangen als jemals zuvor. Nicht nur in der Türkei, überall.

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Mitgründer der Medienplattform P 24. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Lukas Latz.

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