Türkische Chronik (XIX):Russland wird seine Chance nutzen

Russischer Gesandschaft in der türkischen Hauptstadt Ankara nach der Ermordung des russischen Botschafters Andrei Karlow

Niedergelegte Kränze erinnern vor der Russischen Gesandschaft in der türkischen Hauptstadt Ankara an die Ermordung des russischen Botschafters Andrei Karlow. Der 62-Jährige war von einem türkischen Polizisten bei der Eröffnung einer Fotoausstellung erschossen worden.

(Foto: AFP)

Der Mord an Moskaus Botschafter in Ankara verändert die Machtverhältnisse in der Region - zu Ungunsten der Türkei.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Am Tag danach ging alles seinen Gang, als wäre nichts passiert. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan eröffnete im Kumkapı-Viertel der Altstadt von Istanbul den 5,4 Kilometer langen und 1,25 Milliarden Dollar teuren Eurasien-Tunnel. Er soll Europa und Asien unter dem Bosporus miteinander verbinden.

Doch Erdoğans Stolz auf das Projekt war getrübt durch die Ermordung des russischen Botschafters Andrej Karlow am Tag zuvor. Mehrfach hatte Erdoğan sich bei seinem russischen Kollegen Wladimir Putin entschuldigt. Ein russisches Ermittlerteam war in Ankara gelandet. Putin hatte freie Hand bei den Untersuchungen gefordert, Erdoğan hatte dies akzeptieren müssen.

Zur Person

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge.

Das Zugeständnis bedeutet allerdings eine folgenschwere diplomatische Kapitulation vor Moskau, vor allem mit Blick auf die Situation in Syrien.

In gewisser Hinsicht gehört Karlows Ermordung in eine Reihe mit dem Abschuss eines russischen Flugzeugs an der türkisch-syrischen Grenze im November 2015. Der damalige Vorfall verschärfte die Spannungen zwischen dem Nato-Partner Türkei und Russland. Die Türkei entschuldigte sich; Russland fühlte sich danach berufen, seine militärischen Interessen im Syrien-Konflikt noch rücksichtsloser durchzusetzen.

Nun, etwa ein Jahr später, erschüttert der Mord in der türkischen Hauptstadt die fragile Machtbalance in Syrien und zum Teil auch im Irak.

Sicherheitslücken in der Türkei

Der Anschlag fällt in eine unruhige Zeit. In den USA steht eine Machtverschiebung bevor. Die Regierung von Präsident Barack Obama, deren Syrien-Politik bestenfalls unentschlossen war, übergibt die Geschäfte an Donald Trump, dessen politische Strategie viele Fragen aufwirft. Die Schüsse auf den Botschafter dürften die amerikanische Außenpolitik noch schwieriger machen.

Vor allem aber wirft der Mord einen dunklen Schatten auf Erdoğan und seine Regierung. Die Umstände, die dem Täter, einem jungen türkischen Polizisten aus einer Schnelleinsatztruppe, seine Tat ermöglichten, führen der internationalen Gemeinschaft die großen Sicherheitslücken in der Türkei vor Augen.

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