Süddeutsche Zeitung

Türkische Chronik (XV):Erdoğan fegt sie einfach weg

Jeden Tag werden kurdische Politiker eingesperrt. In der Türkei gibt es keinen Rechtsstaat, keine Demokratie mehr. Je mehr die EU sich wegduckt, desto schlimmer wird sie verhöhnt.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

"Ich habe mir die Straßen angesehen, auf denen ich aufwuchs. Niemand dort lacht mehr. Die Leute wenden den Blick voneinander ab. Alles ist still und in Sorge."

Diese Sätze hat Nesrin Nas bei Twitter veröffentlicht. Sie ist die ehemalige Vorsitzende der Mutterlandspartei Anap, gegründet von dem früheren Ministerpräsidenten Turgut Özal, der sich für eine demokratische Front in der Türkei einsetzt. Weiter twittert Nas: "Die Schwermut hat sogar die Schulkinder ergriffen. Ihr morgendliches Geschnatter, während sie auf den Bus warten, ist verstummt. Die Angst hat sie und überhaupt jeden im Griff." Klingt vertraut? Viele dieser Beobachtungen erinnern unweigerlich an Schriftstücke aus dem Deutschland und Österreich der Dreißigerjahre. Es ist kein Wunder, dass viele besorgte türkische Intellektuelle neuerdings wieder Stefan Zweig lesen.

Zur Person

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge. Deutsch von Jonathan Horstmann.

Während die Wirtschaft siecht und das jahrzehntealte Verhältnis zwischen Türkei, EU und Nato bröckelt, setzt die Erdoğan-Regierung eine Maßnahme nach der anderen um, welche die Gesellschaft weiter traumatisiert. Wie ein Test kommt einem das vor. Als sollte ausgelotet werden, wie lange die AKP-Gegner der Gängelung standhalten können. Zwei kürzlich verabschiedete Dekrete hatten zur Folge, dass mehr als 15 000 Leute aus dem Staatsapparat entlassen wurden. 550 Nichtregierungsorganisationen und Verbände, 18 Stiftungen und neun weitere Medienunternehmen wurden geschlossen. Die Begründung dafür lautet grundsätzlich: "Handlungen im Zusammenhang mit Institutionen, die die nationale Sicherheit gefährden". Sezgin Tanrıkulu, kurdischer Politiker und Parlamentsvertreter der Oppositionspartei CHP, kommentiert ironisch, bald werde es gar keine Organisation mehr geben neben denen, die Seiner Majestät gehören.

Der Fall Veli Saçılık - einer derjenigen, die gerade ihren Job verloren haben -, ist ein Sinnbild für das aktuelle Verhältnis von Staat und Bürger. Er arbeitete als Soziologe am Direktorium für Familie und Sozialpolitik in Ankara. Nach seiner Entlassung twitterte er: "Erst habt ihr mir den Arm genommen und jetzt meine Arbeit. Ich werde nicht nachgeben!" Damit spielt er auf ein Ereignis vor 16 Jahren an, als er wegen seiner Mitgliedschaft bei der revolutionär-kommunistischen Partei TDKP in Haft saß. Es kam zu einem Aufstand in seinem Gefängnis, den die Sicherheitskräfte mit Bulldozern bekämpften. Dabei rissen die Fahrzeuge Saçılık einen Arm ab. Erst tags darauf fand sich dieser in der Schnauze eines Hundes wieder.

Saçılık führte daraufhin einen unermüdlichen juristischen Kampf gegen seine Peiniger und erhielt 2005 eine Entschädigung. Aber das Justizministerium reichte eine Gegenklage ein, mit der es ihn und andere beschuldigte, den Aufstand seinerzeit angezettelt zu haben (Saçılık hatte immer beteuert, lediglich mit Steinen auf Polizisten geworfen zu haben). Sie klagten auf den dreifachen Wert der ihm zugesprochenen Schadenersatzzahlung und gewannen. Doch Saçılık gab nicht auf, trug den Fall bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dort wurde ihm 2011 recht gegeben.

Natürlich kann man an einem Fall nicht das Ausmaß der aktuellen Katastrophe begreifen, die Hunderttausende Personen betrifft. Doch werden mittlerweile jeden Tag kurdische Politiker förmlich weggefegt, indem man sie einsperrt. Das geht so weit, dass ein türkisches Gericht nun sogar den Arrest einer Leitfigur der syrischen Kurden, Salih Muslim, angeordnet hat. Muslim führt die Demokratische Unionspartei PYD an und spielt im Kampf gegen den IS in Syrien eine wichtige Rolle. Da er kein türkischer Staatsbürger sei, habe der Erlass gegen ihn keine Gültigkeit, sagte er. Aber es gebe eben keine Rechtsstaatlichkeit mehr in der Türkei. Nur noch die Erlasse eines Sultans, mit denen man andere Länder anscheinend zwingen wolle, unliebsame Personen auszuhändigen.

Die Frage ist, ob hinter den Inhaftierungen der kurdischen Politiker der Türkei die Absicht steckt, das Militär in Syrien weiter in die Teile des Landes zu schicken, in denen die dort angesiedelten Kurden das Sagen haben. Vielleicht will Ankara auch frühzeitig den Boden für zukünftige Verhandlungen mit der Trump-Administration bereiten. In jedem Fall steht längst fest, dass die Türkei unter der AKP keine "normalisierende" oder "wohlmeinende Soft Power" mehr ist, wie der frühere Ministerpräsident Abdullah Gül einst meinte. Im Gegenteil. "Das Land erinnert an einen Bus ohne Kupplung und Bremsen", sagte mir kürzlich ein Diplomat.

Nur sehr wenige haben verstanden, was die Ausrufung des Notstands am 21. Juli für die Türkei bedeutete. Wie ich vom ersten Tag an in dieser Kolumne geschrieben habe, steckte dahinter nie die Absicht, die Verantwortlichen des Putsches zu bekämpfen. Ein Gegenputsch war stattdessen das Ziel. Auf Erdoğans Weg zur absoluten Macht sollten alle oppositionellen Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, ohne Rücksicht auf das soziale und ökonomische Gleichgewicht im Land. Genau das geschieht gerade. Die Säuberungen, die kein Ende zu nehmen scheinen, tragen den 15 Jahre lang gehegten Traum von einem demokratischen Wandel zu Grabe.

Das EU-Parlament hat jetzt mit seinem Votum für einen Stopp der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ein Zeichen gesetzt: Brüssel, es gibt ein Problem mit der AKP-Regierung, und Wegschauen hilft nicht dagegen! Seien wir ehrlich, Ungarn und die Türkei bringen die EU ins Wanken. Orbán und Erdoğan wollen von ihr anerkannt werden, stehen aber für eine Politik, mit der sie sich niemals identifizieren sollte. Je mehr die EU sich wegduckt, desto schlimmer wird sie verhöhnt. Vorgestern hat Erdoğan dazu gesagt: "Wenn sie jemanden als Diktator bezeichnen, ist in meinen Augen nichts an ihm auszusetzen." Wir sollten nicht überrascht sein, wenn er die EU noch dazu auffordern würde, mit Alexander Lukaschenko Verhandlungen über den Beitritt Weißrusslands aufzunehmen.

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Mitgründer der Medienplattform P24. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Jonathan Horstmann.

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Quelle:
SZ vom 25.11.2016/cag
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