"Ich habe mir die Straßen angesehen, auf denen ich aufwuchs. Niemand dort lacht mehr. Die Leute wenden den Blick voneinander ab. Alles ist still und in Sorge."
Diese Sätze hat Nesrin Nas bei Twitter veröffentlicht. Sie ist die ehemalige Vorsitzende der Mutterlandspartei Anap, gegründet von dem früheren Ministerpräsidenten Turgut Özal, der sich für eine demokratische Front in der Türkei einsetzt. Weiter twittert Nas: "Die Schwermut hat sogar die Schulkinder ergriffen. Ihr morgendliches Geschnatter, während sie auf den Bus warten, ist verstummt. Die Angst hat sie und überhaupt jeden im Griff." Klingt vertraut? Viele dieser Beobachtungen erinnern unweigerlich an Schriftstücke aus dem Deutschland und Österreich der Dreißigerjahre. Es ist kein Wunder, dass viele besorgte türkische Intellektuelle neuerdings wieder Stefan Zweig lesen.
Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge. Deutsch von Jonathan Horstmann.
Während die Wirtschaft siecht und das jahrzehntealte Verhältnis zwischen Türkei, EU und Nato bröckelt, setzt die Erdoğan-Regierung eine Maßnahme nach der anderen um, welche die Gesellschaft weiter traumatisiert. Wie ein Test kommt einem das vor. Als sollte ausgelotet werden, wie lange die AKP-Gegner der Gängelung standhalten können. Zwei kürzlich verabschiedete Dekrete hatten zur Folge, dass mehr als 15 000 Leute aus dem Staatsapparat entlassen wurden. 550 Nichtregierungsorganisationen und Verbände, 18 Stiftungen und neun weitere Medienunternehmen wurden geschlossen. Die Begründung dafür lautet grundsätzlich: "Handlungen im Zusammenhang mit Institutionen, die die nationale Sicherheit gefährden". Sezgin Tanrıkulu, kurdischer Politiker und Parlamentsvertreter der Oppositionspartei CHP, kommentiert ironisch, bald werde es gar keine Organisation mehr geben neben denen, die Seiner Majestät gehören.
Der Fall Veli Saçılık - einer derjenigen, die gerade ihren Job verloren haben -, ist ein Sinnbild für das aktuelle Verhältnis von Staat und Bürger. Er arbeitete als Soziologe am Direktorium für Familie und Sozialpolitik in Ankara. Nach seiner Entlassung twitterte er: "Erst habt ihr mir den Arm genommen und jetzt meine Arbeit. Ich werde nicht nachgeben!" Damit spielt er auf ein Ereignis vor 16 Jahren an, als er wegen seiner Mitgliedschaft bei der revolutionär-kommunistischen Partei TDKP in Haft saß. Es kam zu einem Aufstand in seinem Gefängnis, den die Sicherheitskräfte mit Bulldozern bekämpften. Dabei rissen die Fahrzeuge Saçılık einen Arm ab. Erst tags darauf fand sich dieser in der Schnauze eines Hundes wieder.
Saçılık führte daraufhin einen unermüdlichen juristischen Kampf gegen seine Peiniger und erhielt 2005 eine Entschädigung. Aber das Justizministerium reichte eine Gegenklage ein, mit der es ihn und andere beschuldigte, den Aufstand seinerzeit angezettelt zu haben (Saçılık hatte immer beteuert, lediglich mit Steinen auf Polizisten geworfen zu haben). Sie klagten auf den dreifachen Wert der ihm zugesprochenen Schadenersatzzahlung und gewannen. Doch Saçılık gab nicht auf, trug den Fall bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dort wurde ihm 2011 recht gegeben.