Er erzählt, dass er in den letzten 20 Jahren dreimal von "Islamischen Firmen" betrogen worden sei und darüber seine gesamten Ersparnisse verloren habe. Deswegen arbeitete er heute als Taxifahrer. Worauf Çavdar entgegnet: "Aber das ist doch ein Grund mehr, nicht jene Partei zu unterstützen, in welche dieses Geld geflossen ist, sondern gegen diese zu opponieren?" Zu ihrer Überraschung stimmt er ihr zu, nur um anzufügen: "Endlich haben Muslime in der Türkei wieder Luft zum Atmen."
Çavdar fasste zusammen: "Er akzeptiert, dass die Macht der AKP auf seinen Ersparnissen sowie der seiner Freunde und Nachbarn gründet; auch, dass sein persönliches Leben aufgrund dieses für Korruption und Gesetzlosigkeit verwendeten Kapitals den Bach hinunter gegangen ist. Seine Entscheidungen traf er dabei einzig aus religiöser Sorge, sodass er trotz des Wissens um die Ungerechtigkeiten des Staates dennoch die AKP unterstützt. Denn er glaubt fest daran, dass aus diesem Bösen etwas Gutes entstehen wird."
Dieser Mann repräsentiert einen unheilbaren Erdoğan-Bewunderer fernab der Türkei. Doch es gibt auch andere, wie jenen Lebensmittelhändler in Berlin, mit dem ich sprach. Obwohl wohlhabend und nur einmaliger Erdoğan-Wähler, wollte er nicht über dessen internationale Isolation diskutieren. "Genug ist genug, sagt Erdoğan. Er denkt und spricht wie wir, was bedeutet, dass ihn viele im Ausland mögen." In Sätzen wie diesen scheinen exportierte Rachegefühle von Auslandstürken gegen die Eliten in der Türkei auf.
In der Frühphase der AKP-Regentschaft ging es noch um eine Form von Gleichheit für die fromme Mittelschicht. Das ist lange vorbei. Durch Erdoğans spaltende Politik ist diese Sorge um Gleichheit in ein Gefühl kollektiver Überlegenheit umgeschlagen. Dabei ist diese Unterstützung komplett abhängig von den Beschäftigungszahlen sowie sozialen Privilegien etwa im Wohnungswesen oder in der Gesundheitsversorgung. Sobald die Wirtschaft stockt, wird diese Mittelklasse bar jeder Agenda und wirklicher Moral bereit sein, der Macht, die sie ernährte, den Rücken zu kehren. Mit Demokratie aber hat das nichts zu tun. Alles steht und fällt mit dem Vorhandensein einer wohlwollenden Führung; und was wir derzeit beobachten, ist ein freier Fall, überall.
Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Maximilian Sippenauer