Ganze Segmente der Gesellschaft verhalten sich wie Stämme und verdächtigen sich unentwegt gegenseitig. Gerät eine verfeindete soziale Gruppe ins Visier der kommt sie an die Macht, schweigen die anderen. Oder schlimmer noch, sie applaudieren der Ungerechtigkeit. Jedes Mal, wenn eine bestimmte Gruppe an die Macht kommt, hat sie reflexartig zunächst nichts anderes zu tun, als alle anderen "inneren Feinde" zu bekämpfen. Es ist ein Teufelskreis der die aktuelle Situation erklärt.
Ein paar Wochen nach meiner Unterhaltung mit Kadri, wurde mein Erstickungsgefühl so stark, dass ich eine Auszeit nehmen musste, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich floh auf eine griechische Insel in der nördlichen Ägäis. Eines Abends traf ich im Restaurant ein junges Paar. Sie waren aus Istanbul und wollten dem Chaos für kurze Zeit entfliehen, wie sie sagten. Die Frau war schwanger und sehr zurückhaltend, aber man sah ihr die Anspannung an.
Schon bald begannen wir über die Lage in der Türkei zu sprechen. "Es ist so eine unruhige Gesellschaft", sagte sie, "niemals kann Friede einkehren, es ist schwer zu ertragen. Jeder will jedem an die Kehle, jeder sucht Vorwände, den anderen anzugreifen. Jahrzehnte lang haben wir uns gen Westen orientiert in unserem schönen Anatolien, aber es ist noch immer die Hölle."
"Das ist das Unsere, das Paradies und die Hölle" brachte es unser großer Dichter Nazım Hikmet einmal auf den Punkt. Ich antwortete ihr, dass das Paradies das anatolische Land sei, und die Hölle seine Bewohner. Sie nickte und lächelte bitter.
Vielleicht sind wir auch Opfer eines Fluches. Ich erinnerte mich neulich an einen älteren osmanisch-armenischen Herrn aus der Stadt Muş, der den Genozid überlebt hatte. In seiner neuen Heimat, in die er aus der Türkei geflüchtet war, wurde er einmal gefragt: "Was wirst du deinen Unterdrückern sagen, wenn du sie triffst?" Er antwortete: "Ich werde ihnen sagen: ihr habt uns auf diesem Land vernichtet, aber es wird die Zeit meiner Enkelinder kommen, in der ihr alle an dem Dreck ersticken werdet, den ihr selbst gemacht habt".
Fluch oder kein Fluch. Das ist die aktuelle Lage. Eine herrschende Klasse, die in Lüge lebt, und all denen den Mund verbietet, die die Wahrheit sprechen wollen. Die Gerechtigkeit begraben. In diesen Tagen, in denen der Albtraum der Türkei endlos scheint, denke ich an meine Freunde im Gefängnis, die besten und klügsten ihrer Generation, die die Blütezeit ihres Lebens im Kampf um eine humane Ordnung geopfert haben. Für das Land, das sie lieben: Kadri Gürsel, Ahmet Altan, Şahin Alpay, Murat Sabuncu, Deniz Yücel, Tunca Öğreten, Cihan Acar, Mehmet Altan, Ahmet Turan Alkan, Güray Öz, Murat Aksoy, Enis Berberoğlu, Büşra Erdal, İnan Kızılkaya und alle anderen der 169.
Ich denke an die Akademiker und Menschenrechtsverfechter. Und an die tausenden kurdischen Politiker und die Anhänger der Gülen-Bewegung, die so offensichtlich den Kopf hinhalten müssen für einen Coup, von dem sie keine Ahnung hatten und deren einziges Verbrechen darin besteht, mit einer "Sekte" affiliiert zu sein, die überall sonst als legal gilt.
365 Tage von atemlosem Horror sind vergangen. Die Ausmaße der Zerstörung sind kaum auszumalen.
Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Anna Lea Berg.
- "Jetzt droht eine eiserne Zeit" (I)
- "Der Türkei droht das Ende eines unabhängigen Journalismus" (II)
- "Wir haben es mit massiven 'Säuberungen' zu tun" (III)
- "Die Verhaftungswellen hören nicht auf" (IV)
- "Ausnahme ist kein Zustand" (V)
- "Erdoğan treibt die türkischen Eliten ins Ausland" (VI)
- "Die Hexenjagd hat begonnen" (VII)
- "Erdoğan regiert per Dekret - was das heißt, weiß in der Türkei jeder" (VIII)
- "Erdoğan vollzieht den 'zivilen Staatsstreich'" (IX)
- "Erdoğan begünstigt Manipulation und Desinformation" (X)
- "Schweigen ist jetzt der Feind der Demokratie" (XI)
- "Die Türkei nimmt Angehörige in Geiselhaft" (XII)
- "'Sie werden sterben wie Kanalratten'" (XIII)
- "Wo sind die AKP-Mitglieder, die am Putsch teilgenommen haben?" (XIV)
- "Italien sollte sich lieber um die eigene Mafia kümmern" (XV)
- "Warum man Erdoğan nicht trauen kann" (XVI)
- "Du bist als nächstes dran" (XVII)
- "Wir wollen Exekutionen" (XVIII)
- "Jeder ist verdächtig" (XIX)
- "Exodus der türkischen Elite" (XX)
- "Ist es ein Verbrechen, mit einem Reporter verheiratet zu sein?" (XXI)
- "Erdoğan hält die Massen in explosiver Hypnose" (XXII)
- "Es ist Zeit aufzuwachen" (XXIII)
- Türkische Chronik (I): Wie die AKP Verschwörungstheorien über den Putsch befeuert
- Enteignungen wie im Osmanischen Reich (II)
- Haftbefehl ohne Grund (III)
- Man muss die Dinge beim Namen nennen (IV)
- Die alten Foltermethoden sind zurück in der Türkei (V)
- "Man sollte uns unseren richtigen Job machen lassen" (VI)
- Türkei zieht Schrauben der Unterdrückung weiter an (VII)
- "Bedauerlich, dass wir Journalisten das Hauptthema der Nachrichten sind"(VIII)
- Erdoğan plant eine Islamisierung der Schulen (IX)
- Was geschah wirklich in der Nacht vom 15. Juli? (X)
- Die Türkei steht kurz vor einem Bürgerkrieg (XI)
- Wie lange wird die EU der schrecklichen Eskalation standhalten? (XII)
- Verhaftete türkische Journalisten sollten Ehrenbürger werden (XIII)
- Die Kurden verlieren ihre Heimat (XIV)
- Erdoğan fegt sie einfach weg (XV)
- Erdoğan und Trump - Die Zeichen stehen auf hässliche Realpolitik (XVI)
- War der Militärputsch vorhersehbar? (XVII)
- Demokratie in der Türkei - wenn alles zerrinnt (XVIII)
- Russland wird seine Chance nutzen (XIX)
- Das Jahr eines intensiven Albtraums (XX)
- Die AKP erntet, was sie gesät hat (XXI)
- Erdoğan nähert sich seinem Ziel (XXII)
- Der Todeskampf des türkischen Schulsystems (XXIII)
- Jazz war Aktionismus (XXIV)
- Scheidung - und dann? (XXV)
- Sie wollen alle Fremdkörper "entfernen" (XXVI)
- Das Land der Fäulnis (XXVII)
- Nur noch ein kurzer Weg zum Faschismus (XXVIII)
- Die Presse als erstes Angriffsziel (XXIX)
- Prozess als Farce (XXX)
- Die neuen Jungtürken aus Köln (XXXI)
- Berufsverbot für Akademiker (XXXII)
- Dinner mit den Underdogs (XXXIII)
- Das Bangen vor dem Referendum (XXXIV)
- Mit der Türkei, wie wir sie kennen, ist es vorbei (XXXV)
- Die Unterdrückten werden ihre innere Stärke wiederfinden (XXXVI)
- Man muss auf eine demokratische Alternative hoffen (XXXVII)
- Wie weit kann man die Grausamkeit noch treiben? (XXXVIII)
- Bücher in die Verbannung (XXXIX)
- Rechtfertigen Erdoğans Schikanen einen Hungerstreik? (XL)
- Wer gegen Erdoğan ist, muss hungern (XLI)
- Jetzt wurde auch noch ein UN-Richter verurteilt (XLII)
- Das Messer hat den Knochen getroffen (XLIII)
- "Es wird ein Tag kommen, an dem das Land explodiert" (XLIV)
- Die Türkei leidet an einem geistigen Ausnahmezustand (XLV)
- Was wir verloren haben, ist schwer wieder herzustellen (XLVI)
- Erdoğan ist das personifizierte Problem der Türkei (XLVII)
- Warum im Ausland lebende Türken an ihrer Liebe zu Erdoğan festhalten (XLVIII)
- Erdoğans neuer Staat naht (XLIX)