Türkische Chronik (XLVI):Die Gerechtigkeit begraben

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Ganze Segmente der Gesellschaft verhalten sich wie Stämme und verdächtigen sich unentwegt gegenseitig. Gerät eine verfeindete soziale Gruppe ins Visier der kommt sie an die Macht, schweigen die anderen. Oder schlimmer noch, sie applaudieren der Ungerechtigkeit. Jedes Mal, wenn eine bestimmte Gruppe an die Macht kommt, hat sie reflexartig zunächst nichts anderes zu tun, als alle anderen "inneren Feinde" zu bekämpfen. Es ist ein Teufelskreis der die aktuelle Situation erklärt.

Ein paar Wochen nach meiner Unterhaltung mit Kadri, wurde mein Erstickungsgefühl so stark, dass ich eine Auszeit nehmen musste, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich floh auf eine griechische Insel in der nördlichen Ägäis. Eines Abends traf ich im Restaurant ein junges Paar. Sie waren aus Istanbul und wollten dem Chaos für kurze Zeit entfliehen, wie sie sagten. Die Frau war schwanger und sehr zurückhaltend, aber man sah ihr die Anspannung an.

Schon bald begannen wir über die Lage in der Türkei zu sprechen. "Es ist so eine unruhige Gesellschaft", sagte sie, "niemals kann Friede einkehren, es ist schwer zu ertragen. Jeder will jedem an die Kehle, jeder sucht Vorwände, den anderen anzugreifen. Jahrzehnte lang haben wir uns gen Westen orientiert in unserem schönen Anatolien, aber es ist noch immer die Hölle."

"Das ist das Unsere, das Paradies und die Hölle" brachte es unser großer Dichter Nazım Hikmet einmal auf den Punkt. Ich antwortete ihr, dass das Paradies das anatolische Land sei, und die Hölle seine Bewohner. Sie nickte und lächelte bitter.

Vielleicht sind wir auch Opfer eines Fluches. Ich erinnerte mich neulich an einen älteren osmanisch-armenischen Herrn aus der Stadt Muş, der den Genozid überlebt hatte. In seiner neuen Heimat, in die er aus der Türkei geflüchtet war, wurde er einmal gefragt: "Was wirst du deinen Unterdrückern sagen, wenn du sie triffst?" Er antwortete: "Ich werde ihnen sagen: ihr habt uns auf diesem Land vernichtet, aber es wird die Zeit meiner Enkelinder kommen, in der ihr alle an dem Dreck ersticken werdet, den ihr selbst gemacht habt".

Fluch oder kein Fluch. Das ist die aktuelle Lage. Eine herrschende Klasse, die in Lüge lebt, und all denen den Mund verbietet, die die Wahrheit sprechen wollen. Die Gerechtigkeit begraben. In diesen Tagen, in denen der Albtraum der Türkei endlos scheint, denke ich an meine Freunde im Gefängnis, die besten und klügsten ihrer Generation, die die Blütezeit ihres Lebens im Kampf um eine humane Ordnung geopfert haben. Für das Land, das sie lieben: Kadri Gürsel, Ahmet Altan, Şahin Alpay, Murat Sabuncu, Deniz Yücel, Tunca Öğreten, Cihan Acar, Mehmet Altan, Ahmet Turan Alkan, Güray Öz, Murat Aksoy, Enis Berberoğlu, Büşra Erdal, İnan Kızılkaya und alle anderen der 169.

Ich denke an die Akademiker und Menschenrechtsverfechter. Und an die tausenden kurdischen Politiker und die Anhänger der Gülen-Bewegung, die so offensichtlich den Kopf hinhalten müssen für einen Coup, von dem sie keine Ahnung hatten und deren einziges Verbrechen darin besteht, mit einer "Sekte" affiliiert zu sein, die überall sonst als legal gilt.

365 Tage von atemlosem Horror sind vergangen. Die Ausmaße der Zerstörung sind kaum auszumalen.

Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Anna Lea Berg.

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