Süddeutsche Zeitung

Türkische Chronik (XLV):Die Türkei leidet an einem geistigen Ausnahmezustand

Ein Jahr nach dem Coupversuch sind die Fälle psychischer Erkrankungen in der Türkei deutlich gestiegen. Doch es scheint ein Ende der nationalen Resignation in Sicht.

Von Yavuz Baydar

"Es wird keine gemeinsamen Abendessen mehr geben", sagte mir ein Freund kürzlich am Telefon. "Ein, zwei Gläser Raki, und wir beginnen alle, uns gegenseitig runterzuziehen. In dieser Lage werden alle depressiv, jeder zieht sich in seinen Schutzkokon zurück."

Die Ausgehkultur in Istanbul, Izmir und den anderen Küstenstädten der Türkei hatte immer etwas Informelles, Buntes und gleichzeitig Politisches. Man traf sich unter Freunden und politisch Engagierten und diskutierte über die ewige Frage, wie es mit dem Land wohl weitergehen werde.

Zur Person

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge.

Mein Freund brachte nun aber zum Ausdruck, was so viele von uns so empfinden: diese Diskussionen machen keinen Spaß mehr. Die Angst ist so dominant, das Gefühl der Entfremdung in diesem "Kulturkampf" so intensiv, die Ungerechtigkeit so himmelschreiend, dass die Resignation zum allgemeinen Geisteszustand geworden ist. Dass in der Post-Coup Ära die nationale Psyche leidet, bemerkte auch eine Abgeordnete der größten Oppositionspartei CHP. Sie fragte beim Gesundheitsministerium nach, wie viele Fälle von psychischer Erkrankung in türkischen Krankenhäusern registriert wurden.

Die offizielle Antwort war besorgniserregend. Der Gebrauch von Antidepressiva ist in den letzten vier Jahren um mehr als 25 Prozent gestiegen. Fast 9 Millionen Türken waren bis Ende 2016 schon einmal wegen psychischer Probleme im Krankenhaus. Allein seit Januar dieses Jahres haben sich mehr als 3,2 Millionen Menschen einer psychologischen Untersuchung unterzogen.

"Die eigentliche Zahl der Betroffenen liegt aber wahrscheinlich viel höher, da viele sich wegen des sozialen Drucks und der Vorurteile nicht trauen, zum Arzt zu gehen", sagte die Abgeordnete Aylin Nazlıaka. "Das einzige Heilmittel gegen diesen Zustand ist eine Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Die Demokratie darf nicht weiter eingeschränkt werden, die Unterdrückung der Oppositionellen muss aufhören, es braucht Normalität. Sonst werden mit der Zeit noch alle verrückt."

Die Situation erinnert mich an einen Film, den ich vor langer Zeit gesehen habe. "Bure Baruta /Das Pulverfass" (1998) von dem großen serbischen Regisseur Goran Paskaljevic. Meisterhaft beschreibt er darin den Zorn, die Frustration und die Intoleranz, die Serbien im politischen Ausnahmezustand fest im Griff hält.

Ähnliches kann man auch für das Stadtleben in der Türkei feststellen. Der politische Ausnahmezustand geht mit einem geistigen einher.

Beim "Marsch für die Gerechtigkeit", initiiert von dem CHP-Führer Kemal Kılıçdaroğlu, geht es im Kern um die Wiederherstellung von Gerechtigkeit. Aber wird dieser Marsch - falls er überhaupt sein Ziel erreicht, das Maltepe-Gefängnis, in dem Enis Berberoğlu und andere Journalisten inhaftiert sind - irgendeine Wirkung haben? Das kann niemand genau sagen, auch wenn viele die Bemühungen der CHP unterstützen, ein Zeichen der Hoffnung zu setzen.

Der Protestmarsch hat aber auch säkulare, politisch eher vorsichtige Türken wachgerüttelt. Sie haben jetzt endlich verstanden, dass sie ohne Mitsprache in politischen Angelegenheiten Stück für Stück ihre Identität verlieren werden, dass derzeit nichts der "Kulturrevolution" der AKP Einhalt gebietet, und dass eher früher als später deren nationale, sunnitische Identität alle anderen Identitäten dominieren wird.

Die Evolutionslehre wurde aus den staatlichen Lehrplänen gestrichen, der Unterricht des islamischen Rechts, der Scharia, ist von nun an obligatorisch. Die Säkularen können sich nun besser vorstellen, wovon die Repräsentanten der CHP oder der kurdischen HDP sprechen, wenn sie die Türkei als "Open Air-Gefängnis" oder gar als "gigantisches Konzentrationslager" bezeichnen.

Es dämmert nun endlich auch der "handzahmen bürgerlichen Klasse", die sich in ihrem "Nein" zur Verfassungsänderung übergangen fühlt, dass die Straße der einzige Ort des Widerstands ist. Jeden Tag schließen sich mehr und mehr von ihnen dem Protest an, denn sie erkennen jetzt diese politische Maschinerie der Herrschenden, die nur überlebt, weil sie mehr und mehr bürgerliche Freiheiten verschlingt.

Die AKP wird den Ausnahmezustand nicht aufheben, obwohl sie vielfach dazu aufgefordert wurde. Stattdessen verkündet sie immer weitere Verlängerungen. In dieser Stimmung also rückt der erste Jahrestag des versuchten Coups näher - ein kollektiver Selbstmordakt, der Erdoğan und seinem Machtzirkel alle Mittel gab, die Demokratie auszuschalten.

In vielfachem Sinne wenden sich diese zwölf Monate nun einem Ende zu, nämlich auch einem Ende der politischen Erstarrung: Oppositionelle protestieren jetzt lautstark gegen ihre Kriminalisierung, die wichtigste Oppositionspartei organisiert den selbstbewussten "Marsch für die Gerechtigkeit". Die Machthaber der AKP hingegen planen eine einwöchige Aktion zur "Wache für die Demokratie" im ganzen Land. Kein Antidepressivum ist stark genug, um diese Konfrontation noch länger ignorieren zu können.

Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Anna Lea Berg.

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Quelle:
SZ vom 07.07.2017/luch
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