Türkische Chronik (XLV):Die AKP wird den Ausnahmezustand nicht aufheben

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Der Protestmarsch hat aber auch säkulare, politisch eher vorsichtige Türken wachgerüttelt. Sie haben jetzt endlich verstanden, dass sie ohne Mitsprache in politischen Angelegenheiten Stück für Stück ihre Identität verlieren werden, dass derzeit nichts der "Kulturrevolution" der AKP Einhalt gebietet, und dass eher früher als später deren nationale, sunnitische Identität alle anderen Identitäten dominieren wird.

Die Evolutionslehre wurde aus den staatlichen Lehrplänen gestrichen, der Unterricht des islamischen Rechts, der Scharia, ist von nun an obligatorisch. Die Säkularen können sich nun besser vorstellen, wovon die Repräsentanten der CHP oder der kurdischen HDP sprechen, wenn sie die Türkei als "Open Air-Gefängnis" oder gar als "gigantisches Konzentrationslager" bezeichnen.

Es dämmert nun endlich auch der "handzahmen bürgerlichen Klasse", die sich in ihrem "Nein" zur Verfassungsänderung übergangen fühlt, dass die Straße der einzige Ort des Widerstands ist. Jeden Tag schließen sich mehr und mehr von ihnen dem Protest an, denn sie erkennen jetzt diese politische Maschinerie der Herrschenden, die nur überlebt, weil sie mehr und mehr bürgerliche Freiheiten verschlingt.

Die AKP wird den Ausnahmezustand nicht aufheben, obwohl sie vielfach dazu aufgefordert wurde. Stattdessen verkündet sie immer weitere Verlängerungen. In dieser Stimmung also rückt der erste Jahrestag des versuchten Coups näher - ein kollektiver Selbstmordakt, der Erdoğan und seinem Machtzirkel alle Mittel gab, die Demokratie auszuschalten.

In vielfachem Sinne wenden sich diese zwölf Monate nun einem Ende zu, nämlich auch einem Ende der politischen Erstarrung: Oppositionelle protestieren jetzt lautstark gegen ihre Kriminalisierung, die wichtigste Oppositionspartei organisiert den selbstbewussten "Marsch für die Gerechtigkeit". Die Machthaber der AKP hingegen planen eine einwöchige Aktion zur "Wache für die Demokratie" im ganzen Land. Kein Antidepressivum ist stark genug, um diese Konfrontation noch länger ignorieren zu können.

Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Anna Lea Berg.

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