Türkische Chronik (XLIV):"Es wird ein Tag kommen, an dem das Land explodiert"

A man scuffles with a police officer as he attends a protest, dubbed 'justice march', against the detention of his Turkey's opposition Republican People's Party (CHP)'s lawmaker Enis Berberoglu, in Duzce

Ein Teilnehmer des "Marsches für Gerechtigkeit" ringt mit einem Polizisten im türkischen Ort Düzce.

(Foto: REUTERS)

Der "Marsch für Gerechtigkeit", der gerade durch die Türkei zieht, eint die Opposition. Aber was wird Erdoğan tun, wenn der Protest Istanbul erreicht?

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Folgende Szene spielte sich beim Marsch für Gerechtigkeit in der Türkei ab: Ein junger Mann, Alparslan Ege, nahm am Demonstrationszug teil.

"Was willst du?", fragte ein Demonstrant.

"Gerechtigkeit!", rief der Junge.

"Sie werden sie uns nicht geben!"

"Wir werden sie uns nehmen!"

Alparslan ist 12 Jahre alt. Ein Reporter interviewte den Jungen, der mit seinem Onkel gekommen war. Alparslan trug ein T-Shirt mit der Aufschrift "Ich vermisse meine Mama und meinen Papa". Außerdem hielt er ein Plakat hoch: "Ich will nur Gerechtigkeit für meine Eltern!"

Zur Person

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge.

Seine Eltern, lässt uns der Reporter wissen, befinden sich seit zehn Monaten in Haft. Ihnen wird vorgeworfen, Mitglied von Fetö, der Gruppierung des Islampredigers Fettulah Gülen, zu sein - ein nützliches Akronym für Erdoğans Regierung, kann er es doch inzwischen juristisch gegen jeden anwenden, der ihm nicht passt. Einen Prozess braucht es nicht. Was wir ebenfalls erfahren: Der Vater des Jungen war für zwei Perioden Bürgermeister der westanatolischen Kleinstadt Uşak. Zudem kandidierte er Ende 2015 für die Oppositionspartei CHP für das türkische Parlament. Die Mutter von Alparslan arbeitete als Stadtplanerin und hatte ein eigenes Unternehmen. Jetzt sind beide im Gefängnis in der Nähe von Istanbul. "Ich will nur einen Prozess", sagt der Sohn dem Reporter, "und ich will Gerechtigkeit. Das ist alles."

Das Justizsystem der Türkei wurde zerbrochen

Was der Junge dort auf der Autobahn von Ankara nach Istanbul sagt, lässt uns erahnen, wie weit es gekommen ist. Täglich wacht die türkische Bevölkerung in dieser hässlichen Realität auf. Das Justizsystem der Türkei, das Rückgrat des demokratischen Rechtsstaats, es wurde zerbrochen. Der Strudel des Unrechts wurde unlängst zur Drohung für alles, was die gesellschaftliche Stabilität der Türkei noch aushält.

"Die Flure der Gerichte sind ein Albtraum", sagte mir kürzlich mein erfahrener Kollege, der 74-jährige Hasan Cemal. Er verbrachte vier Tage im gigantischen "Palast der Justiz" in Istanbul, verfolgte den spektakulären Prozess gegen prominente Journalisten. Was er dort sah, erschreckte ihn.

"Wem auch immer du dein Ohr leihst, deinen Verstand, vorausgesetzt du hast einen - es schmerzt. Mit wem auch immer du redest, ob mit oder ohne Kopftuch, ob Kurde, Alevit oder Sunnit, es wird immer offensichtlicher, wie dieses großartige Land durch eine Zeit geht, in der es kein Recht mehr gibt. Die Geschichten, die du hörst, von den Verwandten und Strafverteidigern, sie zeigen uns, wie verzwickt diese furchtbare Lage ist. Dieses Land kann in diese Richtung nicht für die Ewigkeit gehen. Es wird ein Tag kommen, an dem es explodiert. Lass mich dir sagen: Die Türkei ohne Recht und Freiheit wird enden in der Hölle."

Nach Monaten, um nicht zu sagen Jahren eines systematischen Rückschritts wird den Bürgern dieses Landes bewusst: Rechtsstaatlichkeit ist das höchste Gut der Demokratie. Die Demokratie steht und fällt mit dem Recht. Seitdem die komplette Macht über die Justiz bei der türkischen Regierung liegt, befindet sich unser Land im freien Fall - ein Ende scheint noch nicht in Sicht.

Und bisher, da die Türkei das Territorium der Rechtlosigkeit betreten hat, zeigt sich, wie stabil unsere Gesellschaft ist. Erdoğan wird weitere Schritte tun, um ein Recht wie in Zentralasien in der Türkei zu etablieren. Doch der Widerstand gegen dieses Projekts wird nicht leise bleiben.

Mit Spannung werden wir beobachten, wie sich Erdoğan verhält

Der Widerstand gegen den traurigen "großen Rückschritt" nimmt verschiedene Formen an. Alle Gruppen reagieren mit ihren eigenen Alarmsignalen auf die alten und neuen Probleme, die unser Land an den Abgrund führten.

Der Marsch für Gerechtigkeit, organisiert von der Oppositionspartei CHP, wird von immer mehr Menschen aus den unterschiedlichsten politischen Lagern unterstützt - ihr Widerstand ist leise und friedlich. Bis jetzt ist es noch zu keinen Anzeigen gekommen, auch wenn eine gewaltsame Konfrontation mit der Regierung unter diesen Umständen fast unausweichlich erscheint. Mit Spannung werden wir beobachten, wie sich Erdoğan verhält, sobald der Protestmarsch sein finales Ziel, Istanbul, erreicht. Die prokurdische HDP schloss sich ihm bisher nicht an, um Provokationen zu vermeiden. Sicher ist aber, dass sich die zwei Gruppen in Kandıra treffen werden. Jenem Ort, wo einer der Vorsitzenden der HDP, Figen Yüksekdağ, seit Monaten im Gefängnis sitzt. Von da an werden wir sehen, ob der Marsch das Potenzial hat, eine Front von Demokraten gegen Erdoğans Autokratie zu bilden.

Wird er die Notstandsgesetze nutzen, um den Protestzug zu blockieren, ihn gar auflösen? Wir wissen es nicht.

Eine andere Aktion für Gerechtigkeit ist der Hungerstreik von Nuriye Gülmen und Semih Özakça. Zwei Lehrer, vom Staat entlassen, haben die kritische Marke von 110 Tagen ohne Essen überschritten, sodass wichtige Körperfunktion bereits ausgesetzt haben. Ihre Fälle zeigen, ganz gleich, wie moralisch gerechtfertigt solche Widerstandsformen der "Linken in der Linken" auch sein mögen, wie stur die linke Seite diese Tradition aufrechterhält, und wie doch die Staatsautorität nicht darauf reagiert und es wohl keine Chance gibt, dass die Lehrer zurück in ihren Beruf können.

Ausgelöst wurde der Protestmarsch der CHP durch die Verurteilung von Enis Berberoğlu zu einer 25-jährigen Gefängnisstrafe. Er war der erste CHP-Abgeordnete, der ins Gefängnis muss. Ein Weckruf für die Partei.

Während sich der Widerstand formiert, versucht Erdoğan weiter, seine politische und kulturelle Revolution voranzutreiben. Nicht nur, dass die Evolutionstheorie aus den Schulen verbannt wurde, die Schüler sollen nun auch die Fundamente der Scharia lernen. Alle Schulen sollen zusätzliche Gebetsräume bekommen. Das gesamte Eigentum der assyrischen Minderheit wurde dem Ministerium für religiöse Angelegenheit (Diyanet) übertragen. Folter wird wieder systematisch praktiziert. All das geschah, nachdem schon der kurdische Ort Sur von der türkischen Regierung zerstört wurde. Einem neuen Dekret zufolge können alle, die von der Regierung entlassen wurden und keinen Militärdienst geleistet haben, dennoch vom Staat zum Wehrdienst verpflichtet werden können.

Währenddessen sammelt sich der zivile Widerstand in der Türkei beim Marsch für Gerechtigkeit und fordert Rechte und Freiheiten. Es wird ein Kampf werden.

Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Timo Lehmann.

Türkisches Tagebuch
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: