Kadri und ich hatten schon früh gewusst, was uns blühte. Im Oktober des vergangenen Jahres verschwanden unsere letzten Zweifel in Bezug auf die Situation: Das Büro von Thorbjørn Jagland hatte uns zu einer Zusammenkunft im Europarat in Straßburg eingeladen, mit der Bitte, unter der Leitfrage "Freie Meinungsäußerung: noch immer eine Voraussetzung für Demokratie?" eine Beurteilung der Türkei vorzunehmen. Zühtü Arslan, der oberster Richter der Türkei, war als Redner ebenfalls eingeladen.
Während wir uns auf unsere Ansprache vorbereiteten, ergriff ein Teilnehmer aus Aserbaidschan das Wort. Er war erzürnt darüber, wie der Europarat das Alijew-Regime "behandle". Sein drohende Tirade beendete er mit einem Satz wie aus dem Mafia-Jargon: "Sei klug, Europarat!" Auf den hinteren Bänken brach daraufhin lauter Applaus aus, so dass wir uns fragten, wer hier für eine Diktatur jubelte.
Im Anschluss an unseren kurzen Vortrag bat ein türkischer Besucher ums Wort. Er beschimpfte uns beide als Lügner, die ihr Heimatland diffamierten. Seine Ansprache rief noch größeren Applaus und "Bravo"-Rufe von denselben hinteren Bänken hervor. Als ein Beamter des Europarats an unseren Sitzen vorbeiging, konnten wir nicht anders, als uns nach den Hinterbänklern zu erkundigen. "Das sind die neu ernannten Richter und Staatsanwälte unseres Landes. Sie sind im Zuge eines Studienaufenthalts über Menschenrechte hier", flüsterte er. Während der Pause stellte sich einer dann als Richter des Kassationshofs in Ankara vor - und redete nicht lange drum herum: "Sie sind beide hochgebildete, zivilisierte Männer", sagte er. "Warum reden Sie so übel über Ihr Heimatland?" Wir sahen uns an, als wollten wir sagen, "Wenn es schon so weit gekommen ist, sind wir erledigt". Mittlerweile sind zwölf Monate vergangen. Manche von uns sind im Exil. Die im Gefängnis zählen sei dem jüngsten Zuwachs aus den Cumhuriyet-Inhaftierungen fast 150. Nach wie vor fragen wir nach der EU.
Nur wenige Tage nach dem gemeinsamen Beschluss des Europäischen Parlaments, der die Freilassung aller eingesperrten Journalisten fordert, hat Ankara geantwortet, indem die verbliebenen kurdischen Medien abgeschaltet und weitere Journalisten festgenommen wurden, als wollte man den ganzen Journalismus der Türkei abzuschaffen. "Verzieht euch!", bedeutet das. Mit zwei Fragen muss die EU sich nun auseinandersetzen: Egal wie "verwässert" der Inhalt des sogenannten "Fortschrittsberichts" über die Türkei ausfallen wird, Ankara wird ihn wahrscheinlich zurückweisen.
Wird man ihn also noch in diesem Jahr veröffentlichen oder wegen der schrecklichen Eskalation auf unbestimmte Zeit verschieben? Der vollständige Showdown zwischen der EU und Ankara wird zu einer endgültigen Auseinandersetzung über das Schicksal von Beitrittsverhandlungen führen. Wie lange wird die EU es aushalten, der Eskalation standzuhalten?