Türkische Chronik (XII):Wie lange wird die EU der schrecklichen Eskalation standhalten?

Demonstranten protestieren im November 2016 in Istanbul gegen die Festnahme von Mitarbeitern der Zeitung Cumhuriyet.

"Wir geben nicht auf": Demonstranten gehen in Istanbul gegen die Verhaftungen in der Redaktion der Cumhuriyet auf die Straße.

(Foto: dpa)

Die Kritik europäischer Politiker an der Türkei hatte zur Folge, dass noch mehr Journalisten inhaftiert und noch mehr Zeitungen geschlossen wurden. Nun muss sich die EU entscheiden.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

"Oh Leute, bitte rettet die Archive vor der Löschung!" Seltsamerweise war das einer der ersten Gedanken, der mir am Montagmorgen durch den Kopf ging. Ich hatte mein Handy ausgemacht, als ich ins Bett gegangen war, nur um jetzt mit neuem Schrecken konfrontiert zu werden: " Cumhuriyet ist verwüstet! Viele Kollegen in Polizeigewahrsam!" Die Verhaftungen ließen mich frösteln. Tiefe Traurigkeit, Verzweiflung. Nun also war Cumhuriyet an der Reihe. Eine der drei wirklich mutigen Zeitungen des Landes, deren Geschichte ebenso alt ist wie die der Republik. Eine letzte Bastion des unabhängigen Journalismus.

Zur Person

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge. Deutsch von Jonathan Horstmann.

Sinnlos, über das Motiv der Polizeirazzia zu sinnieren. Es war, um einen völlig grotesken Vergleich zu ziehen, als klagte man die Washington Post dafür an, zur selben Zeit Straftaten im Namen des Ku-Klux-Klans und der B lack Panther begangen zu haben. Dann kehrten meine Gedanken zu dem digitalen Archiv zurück. "Hoffentlich haben sie eine Sicherheitskopie." Wenig Zweifel konnte daran bestehen, dass die AKP angesichts der Größenordnung und Art der Razzia einen Bevollmächtigten einsetzen, die Kontrolle über das Tagesgeschäft ergreifen und die Redakteure entlassen würde. Um anschließend, wie es mittlerweile Praxis ist, die digitalen Archive zu löschen. Alles darin, die gesamte Erinnerung, würde ins Vergessen befördert.

Als sich die systematischen Attacken gegen die Medien vor genau einem Jahr ausweiteten und nicht länger nur einzelne Journalisten gefeuert und eingesperrt, sondern ganze Medienhäuser angegriffen wurden, waren viele von uns dabei. Es traf das Wochenmagazin Nokta, das als Marke einen ähnlich guten Ruf wie Der Spiegel besaß, und ihr Konkurrenzformat Aksiyon. Die digitalen Archive beider Redaktionen sind Geschichte. Es traf auch die Tageszeitung Taraf, deren früherer Redakteur Ahmet Altan seit mittlerweile 45 Tagen im Gefängnis sitzt und deren wertvolle Archive ebenfalls nicht mehr existieren. Auch die der Gülen-Bewegung nahestehende Tageszeitung Zaman musste dabei zusehen, wie ihre mehr als 30 Jahre lang gepflegten Archive in Luft aufgelöst wurden.

Es traf auch die englischsprachige und mit eigenen redaktionellen Inhalten versehene Schwesterzeitung Today's Zaman, die für ihre liberal-reformerische Kommentarsektion, wie auch für internationale Gastbeiträge weltweit angesehen war. Nachdem die TZ - so die geläufige Abkürzung - im Frühjahr den Bevollmächtigten übergeben wurde, verlor sie ihr gesamtes Archiv. Zuvor war sie neun Jahre lang eine Chronistin der Türkei gewesen, die in Think-Tanks und Wissenschaft herangezogen wurde. Die Links zu Zitaten und Textpassagen in ihren Berichten und Studien fördern nur noch leere Seiten zutage. Das ruft in Erinnerung, wie einst Stalin und Hitler die Presse behandelten. Eine Konsequenz daraus ist, dass sich nun auch der Springer-Verlag - laut seinem Vorstandsvorsitzendem Mathias Döpfner "wegen großer Besorgnis" - aus dem Türkeigeschäft zurückziehen wird.

Telefonanruf. Eine weibliche Kollegin mit zitternder Stimme: "Yavuz, hast du gehört, dass Kadri auch durchsucht wird? Haftbefehl." Sie sprach von meinem geschätzten Kollegen und langjährigem Freund Kadri Gürsel. Ungeachtet seiner langen journalistischen Laufbahn, hatte Kadri sich mit einem scharfen Kommentar an die Frontlinie befördert - wofür seine eingeschüchterten Arbeitgeber ihm kündigten - und sich als Präsident im Nationalkomitee und Vorstandsmitglieder des International Press Institute engagiert.

"Sei klug, Europarat!"

Kadri und ich hatten schon früh gewusst, was uns blühte. Im Oktober des vergangenen Jahres verschwanden unsere letzten Zweifel in Bezug auf die Situation: Das Büro von Thorbjørn Jagland hatte uns zu einer Zusammenkunft im Europarat in Straßburg eingeladen, mit der Bitte, unter der Leitfrage "Freie Meinungsäußerung: noch immer eine Voraussetzung für Demokratie?" eine Beurteilung der Türkei vorzunehmen. Zühtü Arslan, der oberster Richter der Türkei, war als Redner ebenfalls eingeladen.

Während wir uns auf unsere Ansprache vorbereiteten, ergriff ein Teilnehmer aus Aserbaidschan das Wort. Er war erzürnt darüber, wie der Europarat das Alijew-Regime "behandle". Sein drohende Tirade beendete er mit einem Satz wie aus dem Mafia-Jargon: "Sei klug, Europarat!" Auf den hinteren Bänken brach daraufhin lauter Applaus aus, so dass wir uns fragten, wer hier für eine Diktatur jubelte.

Im Anschluss an unseren kurzen Vortrag bat ein türkischer Besucher ums Wort. Er beschimpfte uns beide als Lügner, die ihr Heimatland diffamierten. Seine Ansprache rief noch größeren Applaus und "Bravo"-Rufe von denselben hinteren Bänken hervor. Als ein Beamter des Europarats an unseren Sitzen vorbeiging, konnten wir nicht anders, als uns nach den Hinterbänklern zu erkundigen. "Das sind die neu ernannten Richter und Staatsanwälte unseres Landes. Sie sind im Zuge eines Studienaufenthalts über Menschenrechte hier", flüsterte er. Während der Pause stellte sich einer dann als Richter des Kassationshofs in Ankara vor - und redete nicht lange drum herum: "Sie sind beide hochgebildete, zivilisierte Männer", sagte er. "Warum reden Sie so übel über Ihr Heimatland?" Wir sahen uns an, als wollten wir sagen, "Wenn es schon so weit gekommen ist, sind wir erledigt". Mittlerweile sind zwölf Monate vergangen. Manche von uns sind im Exil. Die im Gefängnis zählen sei dem jüngsten Zuwachs aus den Cumhuriyet-Inhaftierungen fast 150. Nach wie vor fragen wir nach der EU.

Nur wenige Tage nach dem gemeinsamen Beschluss des Europäischen Parlaments, der die Freilassung aller eingesperrten Journalisten fordert, hat Ankara geantwortet, indem die verbliebenen kurdischen Medien abgeschaltet und weitere Journalisten festgenommen wurden, als wollte man den ganzen Journalismus der Türkei abzuschaffen. "Verzieht euch!", bedeutet das. Mit zwei Fragen muss die EU sich nun auseinandersetzen: Egal wie "verwässert" der Inhalt des sogenannten "Fortschrittsberichts" über die Türkei ausfallen wird, Ankara wird ihn wahrscheinlich zurückweisen.

Wird man ihn also noch in diesem Jahr veröffentlichen oder wegen der schrecklichen Eskalation auf unbestimmte Zeit verschieben? Der vollständige Showdown zwischen der EU und Ankara wird zu einer endgültigen Auseinandersetzung über das Schicksal von Beitrittsverhandlungen führen. Wie lange wird die EU es aushalten, der Eskalation standzuhalten?

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