Türkische Chronik (I):Wie die AKP Verschwörungstheorien über den Putsch befeuert

Türkische Chronik (I): Heute weiß die Öffentlichkeit kaum mehr über den Putsch als kurz danach: Hier der Blick aus der kaputten Polizeizentrale auf das Atatürk-Denkmal in Ankara am 19. Juli.

Heute weiß die Öffentlichkeit kaum mehr über den Putsch als kurz danach: Hier der Blick aus der kaputten Polizeizentrale auf das Atatürk-Denkmal in Ankara am 19. Juli.

(Foto: Dimitar Dilkoff/AFP)

Sie behauptet, es seien ausschließlich Gülen-Anhänger - und vielleicht noch die CIA. Beweise bleibt sie schuldig und behindert so die Suche nach den wahren Drahtziehern.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Schon vier Wochen sind seit dem missglückten Putschversuch vergangen, doch die Frage nach den Drahtziehern ist noch immer nicht beantwortet. Um es mit den Worten von Dick Cheney zu sagen: "Wir wissen, dass wir nichts wissen." Und das ist ziemlich merkwürdig.

Seit dem 16. Juli werden wir von der Regierung Tag für Tag mit einem nicht enden wollenden Strom von Einzelheiten über die Folgen gefüttert. Das neueste Update stammt von Premierminister Binali Yıldırım. Demnach kamen 20 355 der 40 029 Festgenommenen in Haft, sie warten auf ihre Gerichtsverfahren. 79 000 Personen wurden aus ihren Berufen "entfernt". 35 Privatkliniken, 1061 Schulen, 800 Studentenwohnheime, 129 Stiftungen, 1125 NGOs, 15 Universitäten, 19 Gewerkschaften, 130 Sender und Zeitungen und 29 Verlage wurden geschlossen.

Zur Person

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt er einen täglichen Gastbeitrag. Deutsch von Sofia Glasl.

Trotzdem kennen wir die Antwort auf eine viel wichtigere Frage nicht. Die AKP-Regierung scheut sich, die Wahrheit darüber offenzulegen, wer mit dem Putschversuch diese Welle von äußerst fragwürdigen Gegenmaßnahmen ausgelöst hat.

Alle offiziellen Quellen blasen in dasselbe Horn

Ebenso sehr scheut sich die Regierung davor, die Ursachen und die Konsequenzen der Verschwörung öffentlich zu machen. Aaron Stein vom Washingtoner Think Tank Atlantic Council hat analysiert, was wir bisher wissen: "Die Vorfälle am 15. Juli sind immer noch schwer zu entschlüsseln, aber nach Untersuchungen liegt der Schluss nahe, dass Teile der ersten und zweiten Armee sowie der Luftwaffe den Putsch angeführt haben. Einheiten der Marine und der Küstenwache waren ebenfalls beteiligt." Gleichzeitig blasen alle offiziellen Quellen in dasselbe Horn: Hinter der Gewalttat stecke eine einzige Gruppe - die Gülen-Anhänger. Zwei Teile der türkischen Presse, einer blind regierungsfreundlich, der andere kontrolliert von unterwürfigen Medienmogulen, verbreiten seit Wochen dieselbe stereotype Nachricht. Kritische und unabhängige Medien wurden fast völlig zum Schweigen gebracht.

In einer Analyse für die unabhängige Forschergruppe Middle East Research and Information Project schreibt Ümit Cizre, der wichtigste türkische Kenner der Beziehungen zwischen Staat und Militär: "Es ist nicht überraschend, dass Verschwörungstheorien einen fruchtbaren Nährboden gefunden haben. Eine dieser Theorien befeuert die Regierung selbst. Die nämlich, nach der Gülen-Anhänger den Coup mit Unterstützung der CIA und der Obama-Regierung ausgeheckt hätten. Ohne unabhängige Medien verhindern die Anschuldigungen der AKP jeden Versuch, die wahren Drahtzieher des Putschversuchs und ihre Agenda zu ermitteln. Stattdessen verleiht die Regierung den Schuldzuweisungen den Anstrich von Seriosität. . . . Sie scheint kein Problem damit zu haben, Informationen zurückzuhalten, die zur Aufklärung der Ereignisse beitragen würden."

Lassen Sie uns nun ein wenig tiefer in die unabhängige Recherche und ihre Erkenntnisse eintauchen: "Der Putschversuch wurde von Personen unterschiedlicher politischer Gesinnung unterstützt, was die Behauptung widerlegt, dass nur die Gülen-Anhänger daran beteiligt gewesen seien", so Stein. "Bis heute sind kaum Informationen über die Kerngruppe der Putschisten bekannt. Das macht es schwer, eindeutige Schlüsse über ihre ideologische Ausrichtung zu ziehen und die Frage zu beantworten, ob sie Verbindungen zu Gülen hatten oder nicht."

Die höchsten Generäle hätten mit dem Coup nichts zu gehabt

Svante Cornell schrieb kurz nach der Revolte in einem Artikel für das Wilfried Martens Centre in Brüssel, den Think Tank der European People's Party: "Niemand glaubt, dass Gülen-Anhänger bis zum Rang eines Generals aufsteigen konnten. Es ist wahrscheinlich, dass Gülen-Anhänger im Offiziersrang beteiligt waren, aber offensichtlich, dass sie nicht alleine gehandelt haben. Die dienstälteren Generale, die beteiligt waren, scheinen keine Verbindungen zu Gülen zu haben. Der Putschversuch könnte also von einer unheiligen Allianz von Kemalisten alter Schule und Gülen-Anhängern in Offiziersposten ausgeführt worden sein", so Cornell. Die höchsten Generäle hingegen hätten mit dem Coup nichts zu gehabt: "Der Generalstabschef und die Leiter der ersten Armee und der Sondereinsatzkräfte blieben der Regierung treu. Das war der zentrale Grund dafür, dass der Putschversuch scheiterte - nicht die Leute auf der Straße."

Diese Erkenntnisse werden den Konflikt, den ich eingangs angesprochen habe, sicher noch anheizen. Es deutet nichts darauf hin, dass die türkischen Medien sich von der Selbstzensur befreien und mit anderen Quellen sprechen als den "erlaubten". Die seriösen westlichen Medien werden es sich hingegen nicht nehmen lassen, jede Nachricht aus der Türkei zu hinterfragen. Je schärfer die AKP gegen den Westen wettert, je länger sie Beweise für ihre Behauptungen schuldig bleibt, desto skeptischer wird man im der Rest der Welt. Das wiederum leistet dem türkischen Hang zum Isolationismus Vorschub, was das Misstrauen der Verbündeten weiter steigert.

Erdoğan hofiert jetzt auch alte Feinde

Meine Angst, und die anderer unabhängiger Journalisten aus der Türkei, betrifft einen anderen wichtigen Punkt: Wenn die Kluft zwischen Realität und offizieller Darstellung von der AKP-Regierung weiter vergrößert wird, indem sie gegenüber den westlichen Verbündeten stur die Gülen-Karte ausspielt, wird sie die weiteren Folgen des Putschversuchs verschleiern.

In der vierten Woche bestehen immer weniger Zweifel daran, dass die Gülen-Anhänger, deren Beteiligung niemand infrage stellt, ein idealer Vorwand für Erdoğan waren, über die Doktrin des "der Feind meines Feindes ist mein Freund" hinaus zu denken. Als er am Dienstag eine Gruppe von Anwälten in seinem Palast empfing, war er froh über die Unterstützung des Vorsitzenden der Anwaltskammer, Metin Feyzioğlu, einer der schillerndsten Persönlichkeiten der Kemal-Elite. Dass Feyzioğlu in seiner Rede kein Wort über Machtmissbrauch, Verteidigungsrecht, Durchsuchungen von Medienhäusern und Vorwürfe der Folter verliert, spricht für sich.

Kampf gegen die Gülen-Anhänger in Wirtschaft und Staat

Hilft es der AKP, die Haupttäter zu verheimlichen? Es funktioniert auf verschiedenen Ebenen. Denn es hilft dabei, die zentrumsnahen und nationalistischen Anti-AKP-Parteien um den Präsidenten zu versammeln und verschafft ihm somit eine starke Mehrheit, um im Falle eines Referendums auf eine Alleinherrschaft umzuschwenken.

Die Welle an Durchsuchungen bei kurdischen Medien deutet auf einen Zweifrontenkrieg hin. Neben dem Kampf gegen die Gülen-Anhänger in Wirtschaft und Staat soll sie Erdoğans Position unerschütterlich machen. Aber ob die Gülen-Karte im Ausland bewirken wird, dass die Trümmer, die Säuberungsaktionen und Masseninhaftierungen legitimiert werden, und ob all das helfen wird, das angeschlagene Bild der Türkei zu stärken, ist eine andere Frage. Aber sie lässt sich nicht beantworten ohne glaubhafte Daten darüber, wer wirklich hinter dem Putschversuch steht. Wir werden also weiter danach fragen.

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