Türkische Chronik (VIII):"Bedauerlich, dass wir Journalisten das Hauptthema der Nachrichten sind"

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Yavuz Baydar wird oft gefragt, warum er vorwiegend über Journalisten wie Can Dündar (l.) oder Erdem Gül berichtet. Seine Antwort: weil sie das Hauptziel sind. (Foto: dpa)

Aber sie sind in der Türkei nun mal das Haupthindernis auf dem Weg zu einer autokratischen Herrschaft. Ist die EU sich bewusst, dass bald eine hohe Mauer das Land von der Außenwelt trennen wird?

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Konnte Ayşe Yıldırım spüren, dass ihre Prophezeiung sich gegen sie wenden würde? "Der Reisepass in deinen Händen ist vielleicht schon ungültig", hatte meine Kollegin vor zwei Wochen in der Tageszeitung Cumhuriyet geschrieben und warnte damit vor der Einschränkung der Reisefreiheit.

"Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Doktorandenstipendium im Ausland erhalten. Sie haben die Möglichkeit auf eine bessere Ausbildung und können Ihr Leben ändern. Sie kaufen eine Fahrkarte, verabschieden sich von Ihrer Familie und fahren zum Flughafen. Sie stellen sich für die Passkontrolle an, Zukunftspläne wirbeln in Ihrem Kopf herum. Sie geben dem Polizeibeamten Ihren Pass. Er gibt Ihren Namen in den Computer ein und sagt: 'Tut mir leid, Ihr Pass wurde für ungültig erklärt. Wir müssen ihn konfiszieren.'"

Leider gibt es solche Szenen fast täglich, Szenen, die deutlich machen, wie die Türkei seit dem Putschversuch im Juli zu einer "Republik der Angst" wurde und nicht auf dem Rückweg zur Demokratie ist, wie Erdoğans Gefolgsmänner behaupten.

In Berufung auf Interviews mit zwei Vertretern der Opposition führte Yıldırım weitere Beispiele für die schiere Absurdität der Konfiszierung von Reisepässen an, die sich ausschließlich gegen türkische Dissidenten richtet. Sie zitierte Filiz Kerestecioğlu, einen Vertreter der pro-kurdischen HDP, der von einer Wissenschaftlerin berichtet, die ihren Reisepass vorzeigt und vom Beamten folgende Antwort bekommt: "Es tut mir leid, aber Ihr Reisepass ist als verloren gemeldet." Sie entgegnet verblüfft: "Aber ich habe Ihnen meinen Pass doch gerade gegeben und ihn auch nicht als verloren gemeldet." Der Beamte antwortet: "Ich muss das Dokument konfiszieren" und fügt mit einem Lächeln hinzu: "Sie können jederzeit einen neuen beantragen."

Yıldırım weiter: "Die AKP-Regierung versteckt sich hinter dem Ausnahmezustand und bricht das Gesetz. Sie kappt die Reisefreiheit von Personen, gegen die ermittelt wird und Gerichtsverfahren anhängig sind. Das Gesetz ist in der Türkei außer Kraft, oder sagen wir so: Die Türkei ist ein Land, in dem nicht Reisepässe verloren gehen, sondern die Rechtsstaatlichkeit."

Meine Kollegin konnte das vor ein paar Tagen selbst erfahren und zeigen, wie genau ihre Beschreibung dieses kafkaesken Problems war. Ayşe und ihr Ehemann Celal Başlangıç, ein erfahrener Redakteur im Bereich des Kurdenkonflikts, wurden auf dem Weg zu einer Konferenz in Brüssel am Flughafen Istanbul abgefangen, ihre Reisepässe wurden ohne Erklärung konfisziert.

Berichte über Zensur fallen - ebenso wie andere regierungskritische Seiten - der Zensur zum Opfer

Ich werde manchmal gefragt, warum meine Geschichten aus der Türkei sich immer um Journalisten und Wissenschaftler drehen. Was mit ihnen in diesen dunklen Zeiten passiert, verdeutlicht wie die freien und unabhängigen Köpfe in der Türkei gesehen und behandelt werden. Es ist bedauerlich, dass wir Journalisten das Hauptthema der Nachrichten sind, aber es führt kein Weg daran vorbei. Der Grund? Sie sind das Hauptziel. Denn wenn man versucht, eine autokratische Herrschaft einzurichten, muss zuerst denjenigen, denen daran gelegen ist, die Wahrheit zu erzählen, die Zunge herausgeschnitten und Augen und Ohren verschlossen werden.

Wie kafkaesk das dann endet, kann man etwa anhand der unabhängigen Nachrichtenwebseite Diken sehen. In meiner letzten Chronik hatte ich vom Hackerangriff auf den Mailaccount des türkischen Energieministers, Berat Albayrak, erzählt, Erdoğans Schwiegersohn. Während die obrigkeitshörigen Medien sich selbst zensierte, veröffentlichte Diken Teile der Emails, in denen es um Ölgeschäfte des Ministers mit dem Irak geht. Das Stück wurde innerhalb von Stunden zensiert. Diken postete daraufhin einen Bericht über die Zensur. Auch dieser wurde zensiert.

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Das tatsächliche Standrecht, das für Medien gilt, nimmt immer weiter Fahrt auf und ist an Absurdität kaum zu überbieten. Auch in seinem Ausmaß nicht. Nach der letzten Razziawelle, die sich Anfang der Woche gegen die kurdischen und alewitischen Oppositionsmedien richtete und im Zuge derer 19 Radio- und Fernsehsender geschlossen wurden, ist quasi kein kritischer Fernsehsender mehr übrig.

Es gibt nur noch Halk TV, der der Oppositionspartei CHP nahesteht. Obendrein wurde der pro-kurdische Sender MedNuçe TV, der aus Brüssel sendet, am Mittwoch vom Satellitennetz abgestöpselt. Nach den Worten des Dissidenten Ragıp Zarakolu geschah dies vor den Augen der EU, nachdem die AKP auf die europäischen Obrigkeiten massiv Druck ausgeübt hatte.

Unabhängigen türkischen Medien soll der Garaus gemacht werden

Jetzt, wo es nur noch eine Handvoll Zeitungen gibt, sind Erdoğan und die AKP näher denn je an der vollständigen Ausschaltung des Journalismus und laden sozusagen zu dessen Beerdigung. Jede Razzia, jede Verhaftung bedeutet Arbeitslosigkeit. Die Journalistenvereinigung TGS hat Alarmstufe Rot ausgerufen: Laut offiziellen Daten sind nun 10 000 Journalisten arbeitslos. Uğur Güç, Vorsitzender der TGS, teilt mit, dass unter dem Notstandsgesetz 3000 Kollegen ihren Job verloren haben.

Aber nicht nur das. Die unabhängige Nachrichtenwebsite T24 berichtete am Mittwoch von einer neuen Verordnung, die verlangt, dass Medien jeden Journalisten, der nach dem Anti-Terror-Gesetz angeklagt wird, innerhalb von fünf Tagen entlassen, ansonsten drohe eine Blockade offizieller Werbeanzeigen.

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Inhaftierungen und Entlassungen werden also dazu eingesetzt, alle verbliebenen unabhängigen Medien in den Bankrott zu treiben. Das war der Grund für ein entrüstetes Editorial der Cumhuriyet, die aufdeckte, welch tief greifenden finanziellen Kontrollen und bürokratischen Schikanen sie sich in letzter Zeit ausgesetzt sieht. "Komme, was wolle, wir werden nicht zum Schweigen gebracht" heißt es dort.

"Vom Journalismus ist in der Türkei nur noch ein Wrack übrig"

Ist sich die EU dessen bewusst, dass eine hohe Mauer die Türkei von der Außenwelt trennen wird, wenn sämtliche Medien ausgelöscht sind? Wie Ayşe Yıldırım hatte ich das heraufziehende Unheil schon in einem Artikel für den Guardian vorhergesagt: "Es ist höchste Zeit zuzugeben, dass das in der Türkei vom Journalismus nur noch ein Wrack übrig ist. Während ein Kern von wagemutigen Journalisten weiterhin die Entwicklung in Richtung Despotismus anfechten wird, bleibt dennoch die Frage, ob die EU sich für ihre eigene Apathie schämen wird und ob unsere internationalen Kollegen die Beerdigung verhindern können."

Einen Tag bevor sein Reisepass konfisziert wurde, stand mein Kollege Celal Başlangıç in Istanbul wegen "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" vor Gericht, weil er stellvertretender Herausgeber der pro-kurdischen Zeitung Özgür Gündem war. Die Zeitung wurde bereits vor einem Monat geschlossen. Bevor er den Gerichtssaal betrat, wurde er nach den Repressionen gefragt. Seine schlagkräftige Antwort: "Das alles ist das Ergebnis eines erfolgreichen Putsches, nicht eines vereitelten."

© SZ vom 07.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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