Süddeutsche Zeitung

Türkische Chronik (IV):Man muss die Dinge beim Namen nennen

Aber die Regierungen in Europa machen sich immer noch Illusionen über ihre Politik mit Ankara. Dabei steht auch Kanzlerin Merkel in der Pflicht, der Öffentlichkeit reinen Wein einzuschenken.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Im Herbst letzten Jahres kam eine deutsche Delegation unter Leitung der Kulturstaatsministerin Monika Grütters auf Besuch nach Istanbul. Bei einem Treffen schilderte ich, wie die AKP alles daransetzte, die türkischen Medien zu zerstören. Peter Limbourg, der Intendant der Deutschen Welle, war zugegen.

Damals schon fühlten wir Journalisten uns belagert und hilflos. Eine Redaktion nach der anderen wurde durchsucht oder geschlossen.

Zur Person

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge. Deutsch von Jonathan Horstmann.

Ich erklärte, dass wir türkischen Journalisten uns natürlich zur Wehr setzen müssen, dass es aber im EU-Kontext auch um einen ganz fundamentalen "Kulturkampf" ging, einen Kampf zwischen jenen, die auf Seiten der Diversität, der Meinungsfreiheit und des Rechtsstaats stehen, und jenen, die - wie in der Türkei, in Polen und Ungarn - entschlossen sind, all das abzuschaffen. Dass es zentral für alle demokratischen Regierungen in Europa ist, in diesem Kampf Position zu beziehen.

Die Kulturstaatsministerin, die völlig verblüfft zu sein schien von meiner Schilderung der zerstörten Medienlandschaft, dankte für die realistische Darstellung und fragte, was denn da getan werden könne.

Ich sagte zum Intendanten der Deutschen Welle, meinte aber alle öffentlichen europäischen Sender, dass sie sich den wenigen unabhängigen türkischen Medien und Journalisten gegenüber solidarisch verhalten sollten. Schließlich bestimmt die Art, wie ein Land mit seinen kritischen Medien umgeht, den allgemeinen Regierungskurs.

Ankara ist mittlerweile völlig immun gegen "Besorgnisse"

Die Meldung, dass die türkische Regierung ein Interview der Deutschen Welle mit dem Sportminister zensierte, hat mich denn auch nicht überrascht. Anscheinend will die AKP unter Erdoğans eiserner Führung Berlin und andere europäische Hauptstädte "lehren", dass die Missachtung der Unabhängigkeit der Medien, Universitäten und des Rechtswesens die neue Norm ist, der andere folgen sollten.

Monika Grütters sagte nach den jüngsten Ereignissen recht vorsichtig im Bundestag, sie sei "tief besorgt" über die Angriffe gegen türkische Medien. Das Problem ist, dass Ankara mittlerweile völlig immun ist gegen "Besorgnisse" - sie hören ja jeden Tag, dass jemand besorgt sei.

Die Autokraten wissen, dass keine ihrer drastischen Maßnahmen Konsequenzen haben wird. Sie können sich wirklich alles erlauben, es werden ja nicht mehr einzelne Individuen oder Institutionen, sondern ganze Berufsgruppen ausgelöscht.

Mein deutscher Kollege Christian Bommarius hat die Situation sehr viel besser auf den Punkt gebracht als die ängstliche Monika Grütters, deren Regierung wie von den falschen Illusionen ihrer Realpolitik hypnotisiert wirkt.

Bommarius schrieb zur Beschlagnahmung des DW-Interviews: "Die Pressefreiheit in der Türkei ist tot. Türkische Journalisten sind nur noch danach zu unterscheiden, ob einer nicht mehr oder noch nicht in einer Gefängniszelle hockt. Derjenige, für den weder das eine noch das andere gilt, ist kein Journalist, sondern eine Kreatur des Autokraten Erdoğan. Wenn es in einem Land gefährlich ist, die falschen Antworten zu geben, dann ist es um die Meinungsfreiheit dort schlecht bestellt. Aber wenn schon die falschen Fragen genügen, sich den Zorn der Staatsmacht zuzuziehen, dann ist das Land für die Demokratie verloren."

Es sind aber nicht nur die Journalisten in Gefahr, sondern auch alle, die noch offen mit ihnen reden. Den Führer der prokurdischen HDP, Selahattin Demirtaş, könnte das Interview, das er in der vergangenen Woche der Süddeutschen Zeitung gab, teuer zu stehen kommen.

Er sagte darin, dass seine Partei die PKK "nicht als Terrororganisation" definiere. "Aber ihre Anschläge, die Zivilisten treffen, definieren wir als Terroraktionen. Die PKK ist eine Gewaltorganisation, die als Reaktion auf Staatsterror entstand."

Am Mittwoch zeigte ein türkischer Bürger ihn deshalb an und forderte, ihn wegen Hochverrats anzuklagen. Da acht weitere Abgeordnete der HDP einen Bescheid erhielten, dass sie "von Polizeikräften dem Gericht zu überstellen sind", würde es mich nicht wundern, wenn es Demirtas ähnlich erginge.

"Ich habe nur von zwei Dingen geträumt: mehr Freiheit und Demokratie für mein Land"

Letzte Woche habe ich an dieser Stelle über den hervorragenden Kollegen Morat Aksoy geschrieben, der zu den mittlerweile 117 verhafteten Journalisten zählt. Er hat als "europäischer" Sozialdemokrat seit vielen Jahren für demokratische Verhältnisse gekämpft. Zuletzt war er Berater von Kemal Kılıçdaroğlu, dem Führer der Oppositionspartei CHP.

Er hatte nie mit der Gülen-Bewegung zu tun. Die Polizei aber wirft ihm vor, er habe in seinen Texten "die terroristische Bewegung gepriesen". Einem CHP-Abgeordneten, der ihn im Gefängnis besuchen durfte, sagte er: "Ich habe nur von zwei Dingen geträumt: mehr Freiheit und Demokratie für mein Land."

Seine Worte und sein Fall sollten der Kulturstaatsministerin und der deutschen Regierung ins Gedächtnis rufen, dass "Besorgnis" nicht mehr die adäquate Reaktion ist auf das, was da passiert.

Der diplomatische Drahtseilakt, den Merkel mit dem autoritären Regime in Ankara versucht, ist bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Aber ich sehe die demokratischen Vertreter der Bundesrepublik auch in der Pflicht, der Öffentlichkeit reinen Wein einzuschenken.

Unaufrichtigkeit ist auf lange Sicht in der Politik immer schädlich. Ja, beim Wissensstand der Bürger könnte sie der Regierung schaden. Man muss die Dinge beim Namen nennen. Und Berlin sollte sich genau ansehen, wie die HDP absolut dämonisiert wird und die CHP immer lauter um Hilfe ruft.

"Es finden große Säuberungen statt", sagte Selin Sayek-Böke, die Sprecherin der CHP, am Mittwoch. "Wer auch immer als Linker oder Kemalist gilt, wird verfolgt. Sie machen genau das, was die Putschisten 1980 machten. Die Regierung sieht es als ihre Aufgabe, alle zu beseitigen, die Ideen produzieren oder in der Wissenschaft tätig sind. Dabei ist die Regierung selbst schuld am momentanen Zustand. Sie haben jeden, der nach Demokratie rief, als Feind angesehen, und machen nun jedem von ihnen das Leben zur Hölle."

Die "Säuberungen" gehen unterdessen Tag für Tag weiter. Ein Dekret führte zur Entlassung von 2346 Akademikern. Und der Premierminister Binali Yıldırım gab bekannt, dass 14 000 Lehrer, die meisten von ihnen arbeiten in den kurdischen Provinzen, entlassen werden, weil sie angeblich "Beziehungen zur Terrororganisation" haben, womit die PKK gemeint ist.

Je mehr Zeit vergeht, desto deutlicher dämmert es auch den letzten "Optimisten", dass die Reaktion auf den blutigen Putschversuch, diesen unfassbar destruktiven politischen Selbstmord, nie und nimmer zu einer Normalisierung führen wird.

Es steht außer Zweifel, dass die Maßnahmen zu einer viel größer angelegten Demontage der ohnehin zerbrechlichen demokratischen Strukturen in der Türkei gehören, einer Demontage, die man eigentlich bereits seit den Reaktionen auf die Gezi-Proteste vor drei Jahren am Werk sehen kann.

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Mitgründer der Medienplattform P 24. 2014 wurde er mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Alex Rühle

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Quelle:
SZ vom 09.09.2016
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