Im Koran gibt es eine Parabel: "Jede Seele wird den Tod kosten", heißt es in einer Sure. Auf die Situation in der Türkei bezogen heißt das: "Jeder einzelne integere Journalist wird zensiert und gefeuert. Als Extra gibt es noch einen Prozess und Gefängnis obendrauf."
Am Dienstag war ich dran. Wenigstens hat das lange Warten und Bangen nun ein Ende. In aller Herrgottsfrühe erhielt ich eine Nachricht von unserem Pförtner in Istanbul: "Herr Yavuz, die Polizei ist in Ihre Wohnung eingedrungen. Nichts wurde beschädigt oder mitgenommen, sie sagten aber etwas von einem Haftbefehl gegen Sie."
Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge. Deutsch von Jonathan Horstmann.
Ich befand mich im Ausland, im selbst auferlegten Exil - in Sicherheit. Ich rief meine Frau an, die sich an der ägäischen Küste aufhielt. Man kann sich vorstellen, wie entsetzt sie über die Verletzung unserer Privatsphäre war.
Mich überraschte das nicht. Ich hatte schon gespürt, dass ich wie viele meiner Kollegen ins Visier genommen werden würde. Mir war klar, dass der vereitelte Putschversuch der Todesstoß für den verbliebenen ernsthaften Journalismus in der Türkei sein würde.
Die gewalttätige Eskalation gegen unsere Freiheit und Vielfalt hatte sich angekündigt. Die Polizei hatte vor ein paar Tagen 24 kurdische Kollegen verhaftet. 36 Mitarbeiter des Staatsfernsehens TRT wurden ebenfalls ins Gefängnis gebracht.
Ironie der Geschichte: Zwei Jahre Haft für linke Gesinnung
Gerade erhalte ich eine Nachricht von einem Freund: Necmiye Alpay, eine bekannte Linguistin, Literaturkritikerin und Autorin wurde am Mittwoch verhaftet. Die Vorwürfe? Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation, also der PKK.
Necmiye war Beraterin der prokurdischen Tageszeitung Özgür Gündem. Sie hatte gegen deren Schließung protestiert. Ironie der Geschichte: Sie saß schon nach dem Militärputsch von 1980 zwei Jahre für ihre linke Gesinnung in Haft.
Auch Murat Aksoy wurde festgenommen. Er ist Zeitungs- und Fernsehjournalist, hat einen sozialdemokratischen Hintergrund und leugnete nie seine alevitischen Wurzeln. Kürzlich war er zum Presseberater des Vorsitzenden der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, ernannt worden.
Die europäischen Politiker lassen uns im Stich
Auch das Haus von Ali Yurttagül wurde durchsucht. Er war wie ich Kolumnist für die englischsprachige Zeitung Today's Zaman, bevor diese geschlossen wurde. Er war jahrzehntelang Berater für das Europaparlament.
Welche Wahl hatten wir denn? Die europäischen Politiker lassen uns im Stich, werden immer blinder für die Werte, die die EU stabilisieren und vereinen sollten. Wir wissen, dass wir schon lange allein sind, eine vom Aussterben bedrohte Art.