Ahmet Altan ist ein türkischer Intellektueller, der für internationale #freeXY-Kampagnen eher wenig infrage kommt, weil ihm das Merkmal der Verletzlichkeit fehlt. In seinem langen Leben (er ist 67, wirkt aber überhaupt nicht gebrechlich, sondern wie ein Boxer im Ruhestand) hat er schon mehr als 300 Klagen überstanden, saß auch schon mal im Knast und hat, wenn nicht alles täuscht, in den vergangenen drei Jahrzehnten immer offen gesagt, was er denkt. Für diese - im besten Sinne - Schnauze wird er in der Türkei geschätzt und geliebt.
Vom ersten Manne im Staate, also von Recep T. Erdoğan, wurde er hingegen sehr gefürchtet. Sonst hätte Erdoğan diesen großen Intellektuellen nicht zu lebenslanger Haft verurteilen lassen. Eine andere Interpretation lässt das Urteil gegen Altan und seinen Bruder Mehmet (ebenfalls ein einflussreicher Intellektueller) und die Journalistin Nazlı Ilıcak, gefällt am vergangenen Freitag, also just dem Tag der Freilassung von Deniz Yücel, leider nicht zu. Altan ist kein deutscher Journalist, wie Yücel, der Erdoğan ebenfalls gereizt hat, ohne dass Erdoğan freilich sein deutsches Leben, seine taz-Artikel zum Beispiel kennen würde. Den alten Altan aber kennt Erdoğan sehr gut, Altans Worte tun richtig weh.
Hinzu kommt, dass Gerhard Schröder und Sigmar Gabriel sich für Altan vermutlich nicht so schnell einsetzen werden. Altan ist auch keine tapfere, aber zierliche, gesundheitlich angeschlagene Autorin wie Aslı Erdoğan (nicht verwandt mit dem Despoten!), deren Schicksal internationale Wellen schlug, was vermutlich zu ihrer Freilassung führte. Altan ist jemand, der im Gericht sagt, gewandt an die Richter: "Ich bin bereit, im Gefängnis zu sterben. Und Sie? Sind auch Sie bereit, im Gefängnis zu sterben? Denn die Strafe, die Sie aussprechen, wird auch auf Ihrer Schicksalskarte verzeichnet werden."
Schicksalskarte, Ahmet Altan ist Schriftsteller, er redet so. Aber seine Bereitschaft, im Gefängnis zu sterben, ist nicht pathetischer Quark, diese Bereitschaft zweifelt niemand ernsthaft an. Altan gehört zu jenen Intellektuellen, für die Ärger mit der Justiz zum Dasein gehören wie für Peter Sloterdijk die ZDF-Couch. Der Kampf mit Erdoğans Justiz hat ihn nicht zermürbt, eher im Gegenteil, seine Verteidigungsreden im Gericht, die vom vergangenen Juni und die jüngste, vom Februar, sind brillante Anklagereden gegen das System Erdoğan: "Es sind in der heutigen Türkei keine Behörden geblieben, die ordentlich funktionieren, bis auf die Friedhofsverwaltung. Die Justiz ist zusammengebrochen, die Medien: dahin. Bildung: dahin. Gesundheit: dahin. Wirtschaft: dahin. Außenpolitik: dahin. Parlament: dahin. Politik: dahin. Sitten: dahin. Nichts, was noch intakt wäre. Ist auch unvermeidlich, so ein Zustand, wenn ein Mann unbedingt allein herrschen möchte."
Altan ist einer der wichtigsten, mutigsten Journalisten der Türkei
Ähnlich kritisch hatte sich Altan einen Tag vor dem blutigen Putschversuch vom 15. Juli 2016 in einer Fernsehsendung geäußert. Sinngemäß: Erdoğan habe dieses schöne Land kaputtgeherrscht, er solle mal aufpassen. Das wertete das Gericht als eine "sublime Botschaft" gegen den Staatspräsidenten, Altan habe vom bevorstehenden Putsch gewusst. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ist kafkaesk, da heißt es etwa, Altan habe an den Putschvorbereitungen seit 2010 gearbeitet.
Altan hat sich inhaltlich einige Male verrannt, so stänkerte er gegen die Autorin und Anti-Lepra-Aktivistin Türkan Saylan, als diese mal im Zuge von (anderen!) Verschwörungsermittlungen kurzzeitig festgenommen wurde: Es sei verstörend, dass eine alte kranke Dame festgenommen würde, aber in der Sache seien die Ermittlungen ja richtig. Altan ist also kein Engel, aber er hat mal eine der besten unabhängigen Zeitungen in der Türkei geleitet, Taraf, er ist einer der wichtigsten, mutigsten Journalisten der Türkei, und er hat viele gute historische Romane geschrieben, unter anderem über die Willkürherrschaft der Jungtürken Anfang des 20. Jahrhunderts. Diese Zeit erinnere ihn, sagte Altan im Gericht, an die Türkei heute.