Wem gehört Istanbul? Uns! Sagten die jugendlichen Gezi-Park-Rebellen und hielten ihre bunten Peace-Fahnen in den Tränengasnebel. Es gab dann Tote und Schwerverletzte, die Polizei prügelte den Aufstand im Park zusammen und die Solidaritätsdemonstrationen im ganzen Land gleich mit. Im Juni vor zwei Jahren war das. Danach erlebte die Türkei immer neue Wellen der Repression, samt Youtube- und Twitter-Verboten - und zuletzt eine Parlamentswahl, die zeigt, dass die Mehrheit der Türken absoluter Macht mehr denn je misstraut. Damit ist auch der Geist von Gezi doch noch aufgegangen, wie ein Samen, den Guerillagärtner in einem öffentlichen Grünstreifen vergraben haben. Vor der Wahl konnte man das schon ahnen.
Etwa bei Reclaim Istanbul: So heißt eine Webseite, die mithilfe neuartiger Stadtpläne "Unsichtbares sichtbar" machen will, beispielsweise die massenhaften Enteignungen für Megabauprojekte wie den dritten Istanbuler Flughafen. Aber auch historische Landnahmen, wie sie einst Istanbuls armenische Minderheit trafen. Die Karten der Interessenskartelle sehen aus wie übereinander gewobene Spinnennetze. Der Blog herkesicinmimarlik.org (Architektur für Jedermann) lädt ebenfalls zur Debatte über die gebaute Zukunft ein. Die Aktivisten bieten im Kleinen, was Stadt und Staat im großen Stil verweigern: Partizipation im Prozess eines gewaltigen urbanen Umbaus.
Die Inhaber der Baukonzerne sind die neuen Paschas der Türkei
Sieben Millionen Häuser will die türkische Regierung im ganzen Land abreißen lassen, sehr viele davon in Istanbul - im Namen der Erdbebenvorsorge. Diese ist gewiss nötig, nur nimmt man beim Unterpflügen ganzer Quartiere weder Rücksicht auf die weniger Begüterten, noch auf wertvolle Bausubstanz. Die Inhaber der Baukonzerne sind die neuen Paschas der Türkei, und Istanbul ist ihr Eldorado. Der Bau-Goldrausch ist ein Motor des türkischen Booms, und wenn die Konjunktur zu erlahmen droht, werden von Präsident Recep Tayyip Erdoğan sofort neue Projekte angekündigt: ein Kanal, der Schwarzes- und Marmarameer verbindet, Tunnel, Brücken, Mammutmoscheen.
So bleibt Istanbul, was es immer war: ein großes Versprechen. Auch in Zeiten der neoliberalen Erdoğanomics. Wie die funktionieren, beschreiben auch Hendrik Bohle und Jan Dimog in ihrem exzellenten "Architekturführer Istanbul". Wer erstmals in die Stadt kommt, den überwältigt sie gewöhnlich im Nu. Der Besucher gerät ins Schwärmen. So stellen die Autoren ihrem Buch denn auch ein Zitat des deutschen Architekten Paul Bonatz voran, der von 1943 bis 1954 in der Türkei lebte: "Istanbul ist nach Lage und Bauten wohl der märchenhafteste Platz der Welt." Aber schon Bonatz warnte davor, "die Gott gegebene Schönheit" aus Wasserfronten und Hügeln den Spekulanten zum Fraß vorzuwerfen. Und damals fing es erst an.
Bohle und Dimog zeigen die Verluste, die Istanbul schon erlitten hat, aber längst nicht nur das. Der Architekt Bohle - er hat während des von zwei Istanbuler Architekten geschaffenen Manzara-Stipendiums seine Eindrücke festgehalten - und der Reporter Dimog interessieren sich nicht nur für das tausendfach beschriebene und besungene historische Erbe der Stadt, für die Edelsteine der byzantinischen und osmanischen Baukultur, ihre Epochen-Geschichte der Istanbuler Baukunst reicht bis in die Gegenwart. Sie lädt auch ein zur Entdeckung der verschiedenen nationalen Architekturbewegungen in der Türkei zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und ihrer Protagonisten. Die suchten nach einer eigenen Formensprache, zwischen anatolischer Tradition und Le Corbusier.
Republikgründer Kemal Atatürk mochte "die in seelischer Hinsicht feuchte und lauwarme Luft" Istanbuls gar nicht, er zog die "harte, trockene Luft der Steppe" vor und wählte Ankara zur Hauptstadt. Dort baute man dann in den Dreißigerjahren massig und monumental, angeleitet auch von deutschsprachigen Emigranten, die so dem NS-Regime entkamen. Istanbul blieb verspielter als die neue Metropole, aber die Stadt verlor mit ihren Griechen und Armeniern auch deren handwerkliches Können. Das trug auch zum Verfall wertvoller Substanz bei.
Auch aus allerjüngster Zeit gibt es aufregende Architekturbeispiele in der Stadt, deren Skyline auf beiden Seiten des Bosporus das historische Ensemble längst selbstbewusst übertrumpft. Aber es fallen ebenso Neubauten auf ohne Maß, Fassaden, die wie mit Botox aufgespritzt wirken, schwer beladen von neoosmanischem Kitsch. Die ins rare Grün geklotzten Trabantenstädte bedienen keine Poetenträume mehr, erfüllen jedoch für viele den Traum vom Eigenheim.
Auch Gäste des Pera Palace waren damals nicht sicher vor dem Tränengas am Gezi-Park
Wem also gehört die Stadt, deren Grund und Boden gerade wieder mal neu verteilt wird? Gewiss auch den Geschichtenerzählern. Deren Vorrat ist im Fall Istanbuls glücklicherweise unerschöpflich. Der Historiker, Politologe und Philosoph Charles King von der Georgetown Universität in Washington hat sich in seiner Betrachtung der "Geburt des modernen Istanbul" auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentriert und sich als Fixpunkt das Pera Palace Hotel herausgegriffen. Das erstrahlt heute wieder in originalgetreu restaurierter Eleganz, was zur Rückschau einlädt. King holt in seinem Buch "Mitternacht im Pera Palace" immer wieder weit aus, mäandert wie ein tagträumerischer Spaziergänger durch das Istanbul der Zwischenkriegszeit. Damals wurden die britischen Besatzer von den Siegern des Türkischen Befreiungskrieges abgelöst, dann ging es auch am Bosporus in die wildbewegten Zwanziger. Bevor er seine Leser auf seinen Exkursionen verlieren könnte, kehrt King immer wieder zurück in das "denkbar glanzvollste Hotel westlicher Art in der Hauptstadt des größten islamischen Reichs". Und zu den wechselnden Besitzern dieser glamourösen Herberge mit den staubigen Teppichen, auf denen sich betresste Generäle, Spione, Schriftsteller, Waffenhändler und abenteuerhungrige Orientreisende das Champagnerglas in die Hand drückten.
Diese Stadtgeschichte erlaubt eine höchst vergnügliche Zeitreise, auch wo sie von den weniger Glücklichen berichtet. Wer liest, wie nach der Russischen Revolution Tausende auf Schiffen in Istanbul ankamen, halb verhungert und mittellos, insgesamt 185 000 Menschen, "was zu einer Erhöhung der Bevölkerungszahl um nicht weniger als zwanzig Prozent führte", der muss an die Kriegsflüchtlinge und die Schiffbrüchigen denken, die heute zu Europas Küsten streben.
Die vielen Migranten brachten ihre Kulturen mit. Russischen Konzertgeigern blieb zwar meist nur noch eine Karriere im Nachtleben, der Zustrom aber sorgte dort zumindest für stete Abwechslung und Lebendigkeit. Dass Istanbul einst ein Mekka des Jazz war, erfährt man auch von diesem kundigen, einfühlsamen Erzähler. King taucht tief ein ins Völkergemisch, das Istanbul einst prägte, und stellt fest, dass es Menschen immer wieder schaffen, "die Welt unordentlicher zu machen, als Nationalisten sie sich wünschen".
Als das Pera Palace 1892 von der Compagnie Wagon-Lits gebaut wurde, stand es an der Straßenkreuzung Kabristan und Çapulcular. Als Erdogan vor zwei Jahren die Gezi-Park-Protestierer beschimpfte, nannte er sie Çapulcular, Marodeure. Auch Hotelgäste des Pera waren damals nicht sicher vor den Salven aus den Tränengasgewehren der Polizei, die die jungen Protestierer durch die Stadt jagte. Die Istanbuler Architektenkammer gehörte übrigens schon vor Gezi zu den wortmächtigen Kritikern eines rücksichtslosen Stadtumbaus.
Bohle und Dimog erinnern in ihrem architektonischen Stadt-Porträt denn auch an die Zeltstadt in dem kleinen Park am Taksim-Platz, die vorübergehend als urbane Utopie diente. Sie haben ihrem Buch auch das schöne Kapitel "Die Stadt als Bühne" angehängt. Darin stellen sie Menschen vor, die sich, so typisch für Istanbul, Zwischenräume aneignen: die Angler mit dem festen Brückenplatz, die Teekocher in ihren winzigen Verschlägen, die Müllsammler, die Tag und Nacht Recyclingfähiges suchen. In diesen Zwischenräumen wird die Stadt Istanbul auch den aktuellen Bauwahn überleben.
Hendrik Bohle/Jan Dimog : Architekturführer Istanbul. DOM publishers. Berlin 2014, 352 S., 38 Euro. Charles King : Mitternacht im Pera Palace: Die Geburt des modernen Istanbul. Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber. Propyläen Verlag, Berlin 2015. 538 Seiten, 28 Euro. E-Book 24,99 Euro.