Süddeutsche Zeitung

35 Jahre Tschernobyl:Der unsichtbare Tod

Gefahr in der Luft, Angst vor ungeschützten Kontakten: Durch die Pandemie wirken die Tschernobyl-Bilder des Fotografen Gerd Ludwig erschreckend vertraut.

Von Sonja Zekri

Man würde gern, aber man kann nicht anders, die Katastrophe geht einem näher als noch vor ein paar Jahren, daran ist nichts zu ändern. Der unsichtbare Tod, die Gefahr in der Luft, die Angst vor ungeschützten Kontakten. Auf einem Foto sieht man den leeren Kulturpalast im ukrainischen Prypjat, der Zuschauerraum ein Trümmerfeld voller Trümmer, Rost und Moos. Drei Sessel sind übrig geblieben und starren ins Nichts. Ein Kulturraum, unrettbar verloren.

Man würde gern, aber man kann nicht anders, man nimmt das alles persönlicher als früher, als in jenen vorviralen Zeiten, die andererseits natürlich auch nicht unbeschwert waren, da muss man nur eine Seite von Gerd Ludwigs gewaltigem Bildband "Der lange Schatten von Tschernobyl" aufschlagen (Gerd Ludwig, Michail Gorbatschow: Der lange Schatten von Tschernobyl. Edition Lammerhuber, Baden 2017. 252 Seiten, 75 Euro). Dort sieht man Gestalten in Schutzanzügen hell wie Schnee in einer Mondlandschaft, die einmal ein Wald war, aber nun sind einige Bäume verbrannt, andere wurden als Sondermüll vergraben. Oder eine Aufnahme einer leeren Turnhalle, Wände und Boden lösen sich auf, seit dreißig Jahren hat hier keiner mehr trainiert. Dazu die Leugner. Die zerstörten Leben. Das einsame Sterben.

An einigen Stellen finden sich Zitate aus dem Tschernobyl-Buch der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch: "Radioaktivität. Wir Menschen fürchten uns davor. Die Tiere auch. Und die Vögel. Selbst die Bäume haben Angst. Aber sie sind stumm." Es ist kein Trost, sondern nur historischer Realismus, wenn man erkennt: Wir sind nicht die Ersten, deren Welt plötzlich endet.

Gerd Ludwigs Bildband wiegt mehr als zwei Kilo, und hätte er ein anderes Thema, würde man ihn prachtvoll nennen. So aber fügen sich seine Panoramen der Geisterstadt Pripjat und der blinden Monitore im Kontrollraum zu einer immersiven Tragödie. Nirgends ist der Eindruck des Eingeschlossenseins, der Ausweglosigkeit stärker als bei den Aufnahmen aus dem Reaktorblock 4, der am 26. April 1986 explodierte. Ein Gang, "stürzende Treppe" genannt, führt in den Betonsarkophag des Reaktors. Hier darf sich ein Mensch Minuten, manchmal auch nur Sekunden aufhalten, so groß ist die Strahlung. Ludwigs hastig aufgenommene Bilder zeigen Streben, Treppen und Abgründe in einem lodernden rot-gelben Licht. Das Ganze wirkt höhlenartig, aber es hat auch etwas Organisches.

Es ist ohnehin erstaunlich, wie bewegt dieser Ort voller Tod wirkt, denn die Kräfte des Zerfalls sind höchst lebendig. Sie lassen wuchern und modern, zersetzen einen Hundekadaver, zerfressen Gebäude.

Neun Mal hat Gerd Ludwig Tschernobyl besucht, aber sein Band ist glücklicherweise keine Chronologie. Nur einmal zeigt er zwei Aufnahmen eines Raumes hintereinander, vielleicht war es einmal eine Behörde. Der Abstand zwischen den Fotos beträgt nur zweieinhalb Jahre, aber die Geschwindigkeit der Veränderung ist rasant. Die letzten Stühle, überhaupt das Holz und die Neonröhren wurden weggeschleppt, und aus dem Boden wachsen jetzt Bäume.

Die Zusammenschau eigentlich bekannter Motive bringt erstaunliche Effekte hervor. Ein paar Seiten nach den Kindern mit Wasserköpfen, Angstzuständen oder blutigen Hautausschlägen strömen Touristen nach Tschernobyl. Eine Fremdenführerin trägt eine Kontaktlinse mit dem schwarz-gelben Zeichen für Radioaktivität, das liebste Fotoarrangement ist eine Puppe neben einer Gasmaske. Wie geht das zusammen? Wie können Menschen Spaß haben im vollen Bewusstsein des Leides von anderen? Auch diese Frage ist gerade etwas dringlicher als sonst.

Mitherausgeber des Bandes ist Michail Gorbatschow, der die Chance für eine Exkulpierung nutzt. Mitnichten habe das Politbüro Informationen über den Unfall verheimlicht, die sowjetische Führung habe schon deshalb nichts verheimlichen können, weil sie selbst gar nichts wusste. Vieles, auch seine eigenen Worte im Politbüro sprechen dagegen. Wenn also Gorbatschow schreibt, dass Tschernobyl vielleicht mehr noch als seine Perestroika "die wirkliche Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion" war, dann hat er auch deshalb recht, weil die Lüge als politisches Instrument bei den Sowjetbürgern nicht mehr funktionierte.

Bei den Bildunterschriften ist man dankbar für Sachlichkeit, Formulierungen vom "Bauch des Ungeheuers" für das Reaktorinnere hätte man nicht gebraucht. Und dass "engagierte Fotografen" - Ludwig über Ludwig - "stummen Opfern" eine Stimme geben wollen, hat man auch schon oft gelesen, aber als Erklärung dafür, warum er so häufig an einen Ort wie diesen fährt, klingt es fast etwas hohl. Einleuchtender ist die professionelle Herausforderung, der Wettlauf mit der Zeit. Als Fotograf will er so lange wie möglich bleiben, an diesem Ort aber hat er nur Sekunden, um festzuhalten, was vor ihm kaum jemand gesehen hat: "Der Adrenalinschub war unglaublich", schreibt er. Auch diese Wirkung hat Tschernobyl.

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