Tschechische Literatur:Der Schläger der samtenen Revolution

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Jaroslav Rudiš lässt in seinem neuen Roman "Nationalstraße" einen typischen Wendeverlierer aus der Prager Vorstadt zur Sprache kommen.

Von Alex Rühle

Vandam! Früher war er Polizist, heute sitzt er die meiste Zeit in seiner Stammkneipe und rühmt sich seiner Kraft. 200 Liegestützen. Am Stück! Man muss schließlich gerüstet sein. "Frieden ist nur eine Pause zwischen zwei Kriegen." Hat schon seine Großmutter gesagt. Vandam. Nach dem Actionhelden. Klar, der schreibt sich anders. Aber in der "Severka" wird nicht geschrieben. Fluppe. Bier. Schnaps. Noch ein Bier. Noch ein Schnaps. Dann weiter die Welt erklären: "Linker Haken. Rechter Haken. Zack. Linke Hand heißt Herz und Liebe. Zack. Rechte Hand heißt Kraft und Wahrheit. Denk dran. Die gute alte Handarbeit."

Dieser xenophobe Schwadroneur könnte auch in Dresden sitzen, in Krakau genauso wie in Budapest

Vandam richtet diese vermächtnishaften Monologe an seinen jugendlichen Sohn, der darin nie zu Wort kommen oder auch nur erscheinen wird, so dass man gar nicht weiß, ob er überhaupt da ist. Wer stattdessen da ist: Sylvia, die Kneipenbesitzerin. Und Froster, der, na ja, einen Freund hat Vandam nicht mehr, Froster sitzt halt auch da rum, trinkt und hört dem selbsternannten Sheriff der Plattenbausiedlung am Rand von Prag zu: "Ist doch alles nur Spaß. Ich bin ein Römer, kein Nazi. Warum sollte man in Europa nicht mit dem römischen Gruß grüßen dürfen? Ganz Europa ist auf den Römern aufgebaut. Ich bin Europäer. Ihr etwa nicht?"

Der tschechische Autor, Dramatiker und Musiker Jaroslav Rudiš, Jahrgang 1972, sagt, Geschichten könne man nirgends besser sammeln als in tschechischen Kneipen. Sein großer, kunstvoller Monolog "Nationalstraße", der von Luchterhand als Roman verkauft wird, aber so wie er ist, sofort auch auf einer Bühne aufgeführt werden könnte, entstand nach einem Treffen mit einem seltsamen Typen an einem Prager Tresen, der steif und fest behauptete, 1989 auf der Nationalstraße der Prager Altstadt mit dem ersten Schlag die "samtene Revolution" in Gang gesetzt haben.

Graffito auf einer Mauer an der Rückwand eines Kiosks am Prager Wenzelsplatz im Herbst 1989, einen Tag nach dem landesweiten Generalstreik. (Foto: AP)

Noch am selben Abend fing Rudiš an, darüber zu schreiben. Das schlanke Buch, das schließlich daraus hervorging, verströmt vielleicht auch deshalb solch eine Kraft, weil Rudis den Monolog immer weiter verdichtet, gekürzt, kondensiert hat. Der Sprecher mag ein heilloser Schwadroneur sein, der Erzähler ist es ganz und gar nicht. Das Buch ist raffiniert durchkomponiert, mehrere Motive - der Wald, Europa, die Macht des Verdrängten - tauchen immer wieder neu und anders auf, und obwohl man in dem fast schon trostlos übersichtlichen Setting dieser Plattenbausiedlung genau zu wissen glaubt, wie der Hase läuft, nimmt die Geschichte eine so dramatische wie überraschende Wendung. Man legt sich eben die eigenen Lügen so lange zurecht, bis sie derart passgenau sitzen, dass man gemütlich darin Platz nehmen kann. Das nennt man dann Erinnerung . . .

Sie sind die zweite Generation hier am nördlichen Stadtrand. Vandams Vater hat diese Siedlung in den Siebzigerjahren der Wildnis abgetrotzt; er war einer der Bauarbeiter, die die uniformen Blöcke hochgezogen haben, im Auftrag des Sozialismus, für eine bessere Welt. Und Sylvias Mutter hat die Kneipe aufgemacht, in der sich jetzt alle vor dem eigenen Scheitern zu verstecken suchen. Später ist Vandams Vater vom Balkon gesprungen, direkt auf den roten Škoda, seine Mutter ist dann noch drei Jahre mit dem zerbeulten Dach herumgefahren.

Vandam kennt eigentlich nur vier Zustände: Saufen, Langeweile, Gewalt und Angst. Wobei er die Angst nie zugeben würde, er macht ja Liegestütze und ist bereit zum Großreinemachen: "Wir haben unter den Österreichern gelitten, wir haben unter den Deutschen gelitten und wir haben unter den Russen gelitten, wir dürfen jeden durch den Kakao ziehen."

Rudiš gibt im kurzen Nachwort des Romans einen in seiner Lakonie fast schon lustigen historischen Abriss über sein Heimatland: "Von Österreich-Ungarn haben wir uns 1918 getrennt, 1938 kamen die Nazis, die alle Juden umgebracht haben. Die vielen Deutschen, die in der Tschechoslowakei lebten, wurden nach Kriegsende vertrieben. Kurz nach der Wende haben wir uns von den Slowaken verabschiedet. Ich wollte ein Buch schreiben über die absurde Einsamkeit, in der wir heute leben." Im Buch kehrt diese Überlegung in grotesker Form wieder. Direkt im Anschluss an sein bizarres Europabekenntnis fängt Vandam an, sein Europa rigoros zu säubern: "Neger raus. Zigos raus Fidschis raus . . ." Sein ethnisches Großreinemachen gipfelt in der Forderung "Slowaken raus. Tschechen raus. Alle raus. Raus. Raus. Raus."

Jaroslav Rudiš: Nationalstraße. Roman. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová. Luchterhand Literaturverlag, München 2016. 160 Seiten, 14,99 Euro. E-Book 11,99 Euro. (Foto: Verlag)

Dieser Vandam aus der Prager Nordstadt könnte auch in Dresden sitzen. In Krakau oder Budapest. In all diesen abgehängten Homogenitätsghettos, in die kein Fremder je kommt und in dem sie sich trotzdem vor nichts so fürchten wie vor der Überfremdung, sitzen sozusagen die Vandamten dieser Erde. 1989 ist hier sehr weit weg. Und all das Große, wofür vermeintlich gekämpft wurde - das selbstbestimmte Leben, die Freiheit, die wie selbstverständlich anzubrechen schien -, zumindest im Leben von Vandam und seinen Kneipenfreunden war es nie zu finden: "Ich hab ein Kind. Muss alles allein machen", sagt Sylvia einmal. "Jeder hat ein Kind", entgegnet ihr der Gerichtsvollzieher, der gekommen ist, um ihr die Kneipe zu nehmen. "Und jeder muss alles alleine machen."

Peter Sloterdijk sprach im Zusammenhang mit dem ostdeutschen Opferdiskurs und der xenophoben Gewalt von einem "Zornkonto": Alle zahlen ein, und die Jugendlichen heben stellvertretend für alle ab. Vandam hat ordentlich abgehoben, immer wieder. In seiner Freizeit, im Dienst, schließlich wurde er wegen Gewaltexzessen aus der Polizei entlassen. Jetzt sind er und all die einstmals Jugendlichen selbst erwachsen. Aber was wird aus jemandem, der mit vierzig schon aussortiert ist? Der noch VHS-Kassetten mit einem belgischen Karatekämpfer anschaut, sich als Anstreicher durchschlägt und ein leeres Konto hat?

In der Mitte des Buchs unterbricht Rudiš einmal den Monolog und wechselt kurz ins auktoriale Erzählen. Vandam schleppt da die Kneipenbesitzerin Sylvia mit zu sich nach Hause. Auch wenn man vorher schon gemerkt hat, was für ein Nichtsnutz und Schwätzer dieser Vandam ist, der perspektivische Wechsel, der Blick durch Sylvias Augen tut fast schon weh. Die zwei sind lebenslügenmüde in dieser Nacht, und kurz geht da die Möglichkeit eines anderen Miteinanders auf. Aber dann schlägt Vandam wieder zu. Das Kapitel trägt die Überschrift "Narben".

© SZ vom 02.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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