Süddeutsche Zeitung

"Trübe Wolken" im Kino:Ruhe vor dem Sturm

Ein Schüler schleicht durch die Leben anderer Menschen: der ausgezeichnete deutsche Psychothriller "Trübe Wolken".

Von Sofia Glasl

Tarnfarben machen den 17-jährigen Paul beinahe unsichtbar und lassen auch seine Tage ineinander verschwimmen. Die Oliv- und Beigetöne seiner Kleidung verschmelzen regelrecht mit den erdfarbenen Schulkorridoren, die er tagsüber durchquert, aber auch mit den Wiesen und Wegesrändern, durch die er in seiner Freizeit streift. Unbemerkt schleicht er durch das Leben anderer Menschen, stöbert in deren Sachen, als ob er sich damit eine eigene Persönlichkeit aneignen könnte.

"Trübe Wolken" hat Regisseur Christian Schäfer seinen ersten Langfilm genannt, und die Tristesse vernebelt nicht nur Pauls Identität. Hier in der namenlosen Provinz wirkt alles gedämpft. Selbst als Steine von einer Autobahnbrücke fallen, Pauls Mitschülerin Dala belästigt wird und ein Junge verschwindet, herrscht eine merkwürdige Ruhe in der Kleinstadt.

Sehr viel mehr Handlung benötigen Schäfer und sein Drehbuchautor Glenn Büsing nicht, um eine Atmosphäre der Beklemmung zu erzeugen, durch die in jedem noch so unbedarften Smalltalk eine Gefahr zu schweben scheint. Egal, ob Dala ihn freundlich auf seine Gedichte anspricht oder die Stiefmutter ihn über seine Zukunftspläne ausfragt, Paul ist in Habachtstellung. Wie die Facetten eines Kaleidoskops setzen Schäfer und Büsing Pauls Identität aus einer Vielzahl an Perspektivsplittern zusammen und halten diese in ständiger Bewegung. Fotografien und Spiegelbilder sind omnipräsent in seiner eingeengten Welt und erzeugen ein Gefühl der Dauerbeobachtung und des Ertapptwerdens. Sehen und Gesehenwerden, das ist selbst für den nahezu unsichtbaren Paul von zentraler Bedeutung.

"Ich hab' eigentlich immer versucht, nicht in den Spiegel zu sehen - und wenn doch, dann habe ich nicht geatmet."

Für ein Kunstprojekt nimmt er die analoge Kamera des Vaters mit auf seine Touren und bemerkt dabei nicht, dass Dala (Valerie Stoll) heimlich Polaroids von ihm macht. Erst beim Durchwühlen ihrer Handtasche findet Paul die Bilder. Sie interessiert sich für diesen stillen Mitschüler, fasst Vertrauen zu ihm, weil er anders ist als die lauten Selbstdarsteller in der Klasse. "Ich hab' eigentlich immer versucht, nicht in den Spiegel zu sehen - und wenn doch, dann habe ich nicht geatmet." Das sagt er erstaunt, als Dala ihn fragt, ob er sich als Kind auch verkleidet hat, um Rollen zu spielen. Biologielehrer Bulwer sieht in ihm eine jüngere Version seiner selbst: missverstanden und auf der Suche nach einer eigenen Ausdrucksform. Paul ist weniger aktiver Darsteller als eigenschaftslose Projektionsfläche.

Beeindruckend ist vor allem die Beherrschung, mit der Jonas Holdenrieder seine erste Hauptrolle spielt und diesen Paul präzise auf dem schmalen Grat zwischen angepasstem Jedermann und soziopathischem Niemand hält. Beklemmend heftet sich die Kamera immer wieder an sein Gesicht, an diese Ausdruckslosigkeit, die andere dazu verleitet, ihre eigenen Gefühle, Wünsche und Nöte auf ihn zu übertragen. Holdenrieder jedoch spielt nicht einfach diese Reglosigkeit, sondern den inneren Kampf, den Paul führt, um gefasst und ruhig zu wirken. Immer ein wenig zu automatisch ziehen sich seine Mundwinkel zu unverbindlichem Lächeln hoch, ein wenig zu lange hält er anderen Blicken stand, als dass er nicht auch ein Unbehagen erzeugen würde. Diesem Jungen traut man beides zu: den unsicheren Einzelgänger, aber auch den Psychopathen.

Diese verunsicherte Wahrnehmung ist eine der Stärken dieses Films. Regisseur Schäfer lässt sie in den Zwischenräumen der Bilder entstehen und erschüttert dadurch das Vertrauen in die Menschenkenntnis und Sehgewohnheit, auf die man auch als Zuschauer oft genug setzt. So wabert "Trübe Wolken" emotional zwischen dem Horror glatter Kubrick-Hotelflure und der Depression des Erwachsenwerdens in den Filmen von Gus Van Sant. Freischwebend zwischen Coming-of-Age-Drama und Psychothriller ist der Film in seiner Ambivalenz ein beeindruckend selbstsicheres Kinodebüt.

Trübe Wolken, Deutschland 2021 - Regie: Christian Schäfer. Drehbuch: Glenn Büsing. Kamera: Sabine Sina Stephan. Schnitt: Tabea Hannappel, Peter Jordan, Claudia Geisler-Bading, Max Schimmelpfennig. Mit: Jonas Holdenrieder, Devid Striesow, Valerie Stoll. Salzgeber, 104 Minuten. Kinostart: 24. Februar 2022.

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