Dankbarkeit, Ehrfurcht, Staunen, Schmunzeln. Niemals mehr wird eine Kulturpersönlichkeit in Deutschland gleichermaßen die Sphären von "E" und "U" mit solcher Kraft und Geltung erreichen. Das haben alle gespürt, die am Donnerstagnachmittag der Trauerfeier für den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki beigewohnt haben, der in der vergangenen Woche gestorben ist. Die Stunde des Abschieds auf dem Hauptfriedhof in Frankfurt am Main, sie begann mit Johann Sebastian Bach, und sie endete mit Puccinis "Bohème" und Thomas Gottschalk.
An diesem Gedenken wollten viele Menschen von Gewicht und Bedeutung teilnehmen; und dennoch war es über weite Strecken eine schöne Mischung aus Ernst, etwas Leichtigkeit und auch Scharfsinn, wie sie Reich-Ranicki, dem obersten Verkünder des Langweilverbots, wohl auch gefallen hätte. "Er hätte auch diese Veranstaltung rezensiert", sagte FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in seiner kurzen, bewegten Trauerrede. Und hier und da sah man Reich-Ranicki vielleicht doch den rügenden Finger in die Luft stechen und auch im feierlichsten Moment nicht von seinem gefürchteten Verdikt Abstand nehmen: "Was schlecht ist, ist schlecht, und es muss gesagt werden!" Doch auch der Oberbürgermeister und der hessische Ministerpräsident haben, bei Politikern nicht selbstverständlich, würdige, angemessene Reden gehalten.
Bundespräsident Joachim Gauck (Mitte) und seine Lebensgefährtin Daniela Schadt kondolieren Andrew Ranicki, dem Sohn von Marcel Reich-Ranicki.
(Foto: dpa)Einzigartige Ausstrahlung
Draußen vor der Halle, in der sich die Trauergäste drängen, auf dem Friedhof der großen, freien Stadt Frankfurt, umgibt den Toten eine literarische Gesellschaft. Sie passt zu ihm. Denn unter erstem Herbstlaub ruhen hier: Adorno. Schopenhauer. Robert Gernhardt. Auch Ricarda Huch, über die Reich-Ranicki Sätze geschrieben hat, bei denen er an sich selbst gedacht haben mag: "In ihren nach 1945 entstandenen Arbeiten gab es keine Spur von Selbstgerechtigkeit oder gar Selbstmitleid." Und: "Intuition und Reflexion bildeten bei ihr eine natürliche, eine unzertrennliche Einheit." Und da sind noch mehr Nachbarn aus dem Ressort literarisches Leben: Dorothea Schlegel. Siegfried Unseld.
Drinnen in der Halle, bei den Zeitgenossen, sieht man, welch einzigartige Ausstrahlung Reich-Ranicki auf die Kultur wie auch auf die Politik hatte. Joachim Gauck, der Bundespräsident, ist eigens gekommen, er schweigt und verneigt sich gemeinsam mit seiner Frau vor dem einfachen Holzsarg im Meer der Blumenkränze. Gegenüber von Gauck sitzt die Familie, angeführt vom Sohn Andrew, der Mathematikprofessor in England ist. Stadt, Land, Bund ehren Marcel Reich-Ranicki mit hohen Repräsentanten, und da meinen sie nicht nur den streitbaren, gewitzten Kultur-"Papst", sondern den Zeit- und Lebenszeugen, den Überlebenden des Warschauer Ghettos, die moralisch-historische Autorität, zu der er im Alter wurde.
Fürs deutsche Judentum, aber auch als echter Freund spricht der kluge Salomon Korn über das Innen- und Außenleben des Mannes; über seinen Weg und die Liebe zur Literatur spricht Rachel Salamander, nicht nur aus der Perspektive der deutsch-jüdischen Geistestradition, auch über den idealistischen Glauben an die ästhetische Erziehung - das ist regelrecht die Hauptrede der Trauerfeier.