Viele Menschen wissen aus eigenem Erleben, dass es kaum eine aufwühlendere Erfahrung gibt als die Höhen und Tiefen der ersten Liebe. An wen das im echten Leben nicht so unmittebar herangekommen ist, der kann es jetzt im Liebesdrama "Blau ist eine warme Farbe" von Abdellatif Kechiche nachvollziehen, für das der französische Regisseur in diesem Jahr in Cannes mit der "Goldenen Palme" ausgezeichnet wurde.
Kechiche, der ein Experte in Sachen Opulenz ist, geht das Thema gewohnt gründlich durch, von Anfang an. Sein Dreistunden-Film, der auf der gleichnamigen Graphic novel von Julie Maroh basiert, setzt im Alltag eines unschuldigen Mädchens mit Liebe für die Literatur ein und endet bei einer Frau, die neben höchster Erfüllung ebenso tiefes Leid erfahren hat.
Die 15-jährige Adèle (Adèle Exarchopoulos) geht im nordfranzösischen Lille zur Schule und sammelt erste sexuelle Erfahrungen mit dem charmanten Thomas (Jeremie Laheurte). Die bildschöne und intelligente Teenagerin merkt allerdings schnell, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlt. Als sie der attraktiven Emma (Léa Seydoux), einer burschikosen und rebellischen Kunststudentin mit blau gefärbten kurzen Haaren, auf der Straße begegnet, will ihr diese nicht mehr aus dem Kopf gehen. Nach einer zufälligen Begegnung in einer Lesben-Bar kommt es zu mehrmaligen Treffen zwischen den beiden, bei denen die noch tastende und unsichere Adèle im Austausch von Gedanken und Gefühlen mit der weltgewandten und offen zu ihrer Homosexualität stehenden Emma allmählich die Nervosität verliert - die zwei Frauen werden zu Liebenden.
Die einfachen Geschichten sind im Kino oft die besten, vor allem wenn sie von einem Erzähler von der Qualität Kechiches vorgetragen werden. Seine Dramen entfalten sich in langen Einstellungen, mit flüssigen Konversationen und einem Naturalismus, der den Zuschauer glauben lässt, er sei mitten in der Szene.
Mehr als Toleranz
Gleichzeitig treibt er seine Geschichten geduldig und mit großer Präzision voran - Spannung baut sich bei Kechiche ohne Vorwarnung auf. In "Blau ist eine warme Farbe" konfrontiert der Regisseur den Zuschauer plötzlich mit einer Szene, in der Adèle von ihren Klassenkameradinnen brutal gedemütigt wird, weil sie ihre Homosexualität erahnen.
Das ist mehr ein dramaturgisches Element als ein inhaltliches: Kechiche geht es nur am Rande um die Homosexualität. Vielmehr will er die erste Liebe in ihrer ganzen Dimension zeigen, ob homo- oder heterosexuell: Als Adèle von Emmas warmherziger Mutter und deren Lebensgefährten zu einem herzlichen Abendessen eingeladen wird, werden sie und Emma als Paar nicht nur toleriert, sondern zelebriert.
Adèle kann sich allerdings nicht in der gleichen Weise revanchieren, obwohl Emma von den Eltern Adéles ebenfallls zum Essen empfangen wird: Nicht nur ist in deren proletarischerer Familie die Mahlzeit wesentlich einfacher (Spaghetti Bolognese statt Austern), auch die Liebschaft wird aus Rücksicht auf die konservative Lebenseinstellung von Adèles Eltern nicht offenbart.
Mit dieser Rücksichtnahme darf das Publikum allerdings nicht rechnen. Kechiches Interesse für die Nuancen menschlicher Interaktion macht auch vor der körperlichen Liebe nicht Halt: Exarchopoulos und Seydoux spielen eine siebenminütige Sexszene, die den Sex in legendären Filmen wie "Der letzte Tango in Paris" oder "Wenn die Gondeln Trauer tragen" bieder und überholt erscheinen lässt. Die zwei Schauspielerinnen demonstrieren jede denkbare Position lesbischer Liebe mit großer Emphase - die Grenzen zwischen simulierter und echter Fleischeslust scheinen zu verschwimmen.
Diese Szenen dürften dazu beigetragen haben, dass Exarchopoulos und Seydoux in Abwandlung der Regeln des Filmfestivals von Cannes neben Kechiche mit der "Goldenen Palme" ausgezeichnet wurden. Üblicherweise bekommen an der Croisette nur die Regisseure den Hauptpreis zuerkannt, doch die Jury unter Steven Spielberg machte in diesem Jahr ausdrücklich eine Ausnahme und verlieh den Preis auch an die zwei Hauptdarstellerinnen.
Verbunden über den Sex
Sex sells sagte mancher Kritiker danach, doch auf Grund der schauspielerischen Leistung war die Entscheidung nachvollziehbar. Die zwei Akteurinnen führen vor, dass Sex und Liebe im besten Fall ein und dasselbe sein können, dass sich zwei Menschen miteinander verbinden vermögen, auch wenn sie in Wahrheit weniger gemein haben als sie selbst vielleicht glauben.
Um diese Differenzen geht es im zweiten Kapitel des Films, das der Titel im französischen Original ("Das Leben der Adèle, Kapitel 1 & 2") ankündigt. Es setzt ein, nachdem die zwei Frauen zusammengezogen sind und Adèle als Kindergärtnerin arbeitet, während Emma ihre Karriere als Künstlerin vorantreibt. Waren die Klassenunterschiede zwischen den zwei Liebenden bislang nur angedeutet, so arbeitet Kechiche die unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen und die Diskrepanzen der sozialen Herkunft nun deutlicher heraus.
Dominierte vorher der Überschwang, so ist es nun die profane bekannte Geschichte von all den Paaren, egal welcher sexuellen Orientierung, die trotz allen Bemühens und des nach wie vor großartigen Sex an ihren immanenten Gegensätzen scheitern.
Doch auch nachdem es zum Bruch kommt, bleibt Kechiche an der Geschichte dran. Dieser Film fühlt sich auch nach drei Stunden so an, als ob er ewig weitergehen könnte. Fast so also wie im echten Leben.
Ab 19. Dezember im Kino: "Blau ist eine warme Farbe", Frankreich, Belgien, Spanien, 2013 - Regie: Abdellatif Kechiche. Buch: Abdellatif Kechiche, Ghalia Lacroix, Julie Maroh. Kamera: Sofian El Fani. Mit: Adèle Exarchopoulos, Léa Seydoux, Alma Jodorowsky, Jérémie Laheurte. Alamode Filmverleih, 179 Minuten.