Die Sache ist kompliziert. Der junge Abgesandte der Molkereibrigade, Wilhelm Powileit, ringt nach Worten, um sie verständlich zu erklären. Um eine schnelle Reifung gehe es, erläutert er schließlich, bei dennoch weicher Konsistenz: "Das Ziel ist Ost-Käse, der wie West-Käse schmeckt."
Man sieht die Gesichter des Regisseurs Matti Geschonneck und seines Drehbuchautors Wolfgang Kohlhaase förmlich vor sich, wie sie sich über den Satz amüsieren. Er fasst die Misere der untergehenden DDR ziemlich komisch zusammen. Ihr Film spielt in Ostberlin, im Herbst 1989. Auch jenseits der Milchwirtschaft sind mächtige Gärungsprozesse im Gang. Erst einmal muss aber der Mann, dem die Molkereibrigade ihren Namen verdankt, der verdiente Parteigenosse Wilhelm Powileit, gefeiert werden. Er wird neunzig. "Und bitte kein Wort über irgendwelche Ereignisse in Ungarn oder Prag", bittet Ehefrau Charlotte (Hildegard Schmahl) ihren Sohn Kurt (Sylvester Groth). So bringen die Jungen Pioniere dem Alten noch einmal ein Ständchen dar, wie immer, und nickt der halbdebile Patriarch mal grimmig, mal gönnerhaft ein Defilee aus Familienmitgliedern, Nachbarn und Funktionären ab.
Nur Enkel Sascha (Alexander Fehling) fehlt, er ist gerade in den Westen abgehauen. Dabei ist Sascha der Einzige, der den Tisch für das kalte Buffet aufstellen kann! Schließlich greift Powileit selbst zu Hammer und Nägeln. Der Gewaltakt am Tisch aber verhindert nicht, dass das protzige Ungetüm - ein Nazi-Erbe wie Powileits Villa! - krachend zusammenbricht, stellvertretend für diesen Staat.
"In Zeiten des abnehmenden Lichts" ist die Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers von Eugen Ruge von 2011, der über fünf Jahrzehnte und mehrere Generationen hinweg die Geschichte der DDR erzählt. Im Film werden wenige Tage rund um Powileits Neunzigsten daraus, ein genialer Kniff. Der Roman sei nicht kürzbar, hat Drehbuchautor Kohlhaase erklärt, einen Fernsehmehrteiler aber hätte er daraus auch nicht machen wollen. Indem sich der Film frech von seiner Vorlage löst, kann er ihr aber doch gerecht werden. Kohlhaase genügen oft nur wenige Dialogsätze, um ganze Biografien auszuformulieren. Den greisen Jubilar Wilhelm Powileit spielt Bruno Ganz, er verkörpert den Kommunismus.
Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase ist mittlerweile 86 - und in absoluter Bestform
Wenn Powileit sich am Geburtstagsmorgen mit eiserner Disziplin aus dem Bett schwingt, den Anzug herrichtet und mit einem Orden schmückt, hat das etwas Rührendes. Und der Schweizer Bruno Ganz trägt viele Sympathien in die Figur hinein, die Powileit mit seinem Altersstarrsinn und seinen zwischen Demenz und Bösartigkeit schwankenden Kommentaren jedoch gänzlich verspielt. Dass in dem bis zur Unmenschlichkeit antifaschistischen Powileit auch der "Führer" aufscheint, als Nachbild von Ganz' früherer Rolle in "Der Untergang", ist durchaus beabsichtigt. Die historischen Linien, die vom Dritten Reich zur realsozialistischen Diktatur der DDR führen, sind im Buch wie im Film ein Thema.
Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase ist mittlerweile 86 Jahre alt - und in Bestform. Mit wenigen Dialogzeilen charakterisiert der Autor von Klassikern wie "Berlin - Ecke Schönhauser" (1957), "Solo Sunny" (1980) oder auch "Sommer vorm Balkon" (2005) die Lebensenttäuschungen seiner Figuren und die Brüche, die sich durch all ihre Beziehungen ziehen. Charlotte (von Hildegard Schmahl sehr fein, sehr aristokratisch gespielt, mit fröhlicher Fassade, hinter der ein Abgrund an Verbitterung lauert) würde den senilen Rechthaber Wilhelm am liebsten ins Heim stecken. Auch, weil der ihren Wintergarten, einen exotischen Sehnsuchtsort, der sie an ihr gemeinsames Exil in Mexiko erinnert, mit seinen "Reparaturen" unter Wasser setzt. Dabei hatte sie Wilhelm einmal so geliebt. Wilhelm wiederum verdächtigt Charlotte, ihn zu vergiften und findet Trost am üppigen Busen der Haushaltshilfe.
Zwar dreht sich oberflächlich alles um ihn. Der alte Powileit ist aber beinahe schon tot und ohnehin eine halbe Karikatur. Der Erzähler des Films, die Figur, die die widersprüchlichen Gefühle am ehesten bündelt, die das gescheiterte Gesellschaftsexperiment DDR wohl auch bei den Autoren auslöst, ist der Stiefsohn des Patriarchen, Kurt. Mutter und Stiefvater hatten ihn und seinen Bruder während des Krieges in die Sowjetunion geschickt, wo sie gegen Hitler kämpfen wollten. Stattdessen war Kurt zehn Jahre im Arbeitslager, wo er auch seine russische Ehefrau Irina (Evgenia Dodina) kennenlernte.
Noch halten die Rituale die Familie und den Staat zusammen, aber nicht mehr lange
"In Zeiten abnehmenden Lichts" ist ein Kostümfilm, Nostalgie aber kommt in keinem Moment auf. Geschonneck und sein großartiges Ensemble charakterisieren eine Gesellschaft voller gescheiterter Hoffnungen und Utopien. So buchstäblich krachend manche Pointen sind, ist es eher ein Gefühl der Implosion, das der Film vermittelt. Eine Familie und eine Gesellschaft lösen sich auf - das liegt wohl auch am Sauerstoffmangel. Fast der gesamte Film spielt in Innenräumen, die Geschonneck deprimierend wie Bunker inszeniert. Alles ist grau oder braun, die Möbel sind massiv, vieles liegt im Schatten oder Halbschatten, aus dem Personen immer wieder überdeutlich hervortreten. Die Zeit scheint hier anders zu fließen, langsamer, wie unter Wasser. Noch halten Rituale alles zusammen. Aber nicht mehr lange.
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In Zeiten des abnehmenden Lichts , Deutschland 2017 - Regie: Matti Geschonneck. Buch: Wolfgang Kohlhaase, nach dem Roman von Eugen Ruge. Kamera: Hannes Hubach. Mit: Bruno Ganz, Hildegard Schmahl, Sylvester Groth, Evgenia Dodina, Natalia Belitski, Alexander Fehling, Gabriela Maria Schmeide. X Verleih, 101 Minuten.