Tove Ditlevsens Roman "Gesichter":Wem Ehre gebührt

Tove Ditlevsen verleiht ihrem literarischen Alter Ego einen begehrten Preis, den die Dänische Akademie in Wirklichkeit nie vergeben hat.

Von Sophie Wennerscheid

Tove Ditlevsens Roman "Gesichter": Besonders von männlichen Kritikern ihrer Zeit musste sich Tove Ditlevsen anhören, ihre Bücher seien schlicht und traditionell. In "Gesichter" schlägt sie ironisch zurück.

Besonders von männlichen Kritikern ihrer Zeit musste sich Tove Ditlevsen anhören, ihre Bücher seien schlicht und traditionell. In "Gesichter" schlägt sie ironisch zurück.

(Foto: Per Pejstrup/picture alliance / Ritzau Scanpi)

Nach dem großen Erfolg der autobiographischen "Kopenhagen Trilogie" gilt es nun ein weiteres Werk der dänischen Autorin Tove Ditlevsen zu entdecken: "Gesichter". Der spätmodernistische Roman aus dem Jahr 1968 erzählt von dem psychotischen Leiden der Kinderbuchautorin Lise Mundus, dem Alter Ego Ditlevsens. Er erschien nur ein Jahr nach den beiden ersten Bänden der Trilogie, "Kindheit" und "Jugend". Seine literarische Sprache aber ist eine vollkommen andere.

Im ersten Kapitel ist der Ton ruhig, wie gedämpft von den Schlaftabletten, die Lise nimmt, um durch die Bedrohungen der Nacht zu kommen. Gleichförmig gleiten die Sätze über die Gesichter, die Lise auf Abstand und damit unter Kontrolle zu bringen versucht. Das Kapitel würde, losgelöst vom Rest des Romans, auch als lyrischer Essay darüber durchgehen, wie sich Gesichter unter dem Druck der Zeit verformen. Die vielen Vergleiche, derer die Erzählerin sich dabei bedient, könnten als literarische Schwäche betrachtet werden. Und sind es vielleicht auch. Liest man sie jedoch als Ausdruck von Lises Bemühen, die Dinge in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, leuchtet das Verfahren ein. Allerdings misslingt der Versuch gründlich. Sobald Lise unkonzentriert wird, nimmt eins der Gesichter Reißaus und glotzt sie voller Bösartigkeit an.

So wie in Hans Christian Andersens Märchen "Die Nachtigall", in dem der Kaiser von China dem Tod ins Gesicht schaut, der ihm so schwer auf der Brust sitzt, dass er kaum noch Luft bekommt. Schlimmer noch als die Fratze des Todes sind aber die übrigen "wunderlichen Köpfe", die den Kaiser aus den Falten seiner samtenen Bettvorhänge heraus anstarren. "Das waren die bösen und guten Taten des Kaisers, die ihn anblickten, jetzt da der Tod ihm auf dem Herzen saß. 'Entsinnst du dich dieses?' flüsterte einer nach dem andern. 'Erinnerst du dich dessen?' Und dann erzählten sie ihm so viel, dass ihm der Schweiß von der Stirn rann." Damit er die Stimmen nicht hören muss und die bösen Gesichter verschwinden, schreit der Kaiser nach Musik, nach der lauten chinesischen Trommel. Statt der Trommel aber kommt die kleine Nachtigall, die der Kaiser in seiner Verblendung einst durch einen künstlichen Vogel ersetzt hatte. Und ihr Gesang ist es, der ihm Hoffnung gibt. Die Gesichter verbleichen "und selbst der Tod horchte und sagte: 'Sing weiter, kleine Nachtigall! Sing weiter!'"

In Tove Ditlevsens Roman gibt es keine den Schrecken bannende Nachtigall. Hier werden die Gesichter im Gegenteil immer bedrohlicher. Schon am Ende des ersten Kapitels ist es, nicht zufällig, das Gesicht des Ehemannes Gert, das sich ins Groteske verschiebt. Die einzelnen Züge rücken auseinander, Details treten vergrößert hervor und die Ohren sind beharrt wie bei einem Tier. "Großmutter, Großmutter, warum hast du so große Ohren?" Schon wieder ein Märchen, das bei der Lektüre in den Sinn kommt. Aber auch hier: kein Happy End. Zu sehr ist Lise Mundus in ihrer Wahrnehmung gefangen, zu sehr hält sie das, was sie sieht und hört, für Wirklichkeit.

In Lises Welt sind es nicht nur die Gesichter, die auseinanderfallen. Es kann auch ein kleiner Gedanke sein, der aus den Buchseiten herausrutscht und eine Zeitlang wie eine Träne am Rand des Schutzumschlags hängt, bis er zu Boden fällt. Das mag poetisch klingen, ist aber dramatisch, weil für Lise einfach nicht mehr klar ist, was wohin gehört, welches Wort, welcher Blick wahr, und welcher falsch ist. Warum spricht die Freundin Nadja auf einmal mit der Stimme des verhassten Hausmädchens Gitte? Und warum findet sie es lustig, dass Lises Sohn Mogens "immer noch das Gesicht seines Vaters hat"? Haben Vater und Sohn eine dieser "komplizierten Vereinbarungen" getroffen, von denen Lise nichts weiß? "Die Gefahr näherte sich von mehreren Seiten gleichzeitig, und es war schwer zu durchschauen, worauf das alles hinauslief."

In der Klinik aufzuwachen, stellt sich Lise wunderbar vor. Endlich Ruhe vor dem Ehemann

Statt sich der Gefahr zu stellen, unterwirft Lise sich ihr. Sie nimmt die Schlaftabletten, von denen sie meint, dass Gert und Gitte nur darauf warten, dass sie sie endlich schluckt, ruft dann aber doch den Arzt. In der Klinik aufzuwachen, stellt sie sich wunderbar vor. Endlich Ruhe vor dem Ehemann, der eine Affäre mit dem Hausmädchen hat und Lises Tochter aus erster Ehe nachstellt. Doch die Stimmen, die Lise aus den Wasserleitungen hört, schweigen auch in der Klinik nicht. Im Gegenteil. Sie kommen nun auch aus dem Kopfkissen und schleichen durch das Abluftgitter. Es sind Stimmen, die ihr zurufen, dass man sie töten will, dass sie nichts wert ist, als Mensch, Frau und Mutter nicht, und als Schriftstellerin schon gar nicht.

Wer einmal erlebt hat, wie unverrückbar die Wahrnehmungen von Menschen sind, die uns in ihrem psychotischen Schub "verrückt" vorkommen, wird bei der Lektüre von "Gesichter" besonders berührt sein. Die Geschichte führt so nah an die verzerrte Perspektive Lises heran, dass es weh tut. Lise ist gefangen in einer Welt, die sich gegen sie verschworen hat. Alle stecken unter einer schweren dunklen Decke, keinem ist mehr zu trauen. Und jeder Versuch von außen die Wahnvorstellung als Wahnvorstellung zu benennen, ist nicht einfach nur zum Scheitern verurteilt, sondern wird für die Kranke zu einem neuen Beweis dafür, dass alle ihr Böses wollen. Und vielleicht hat sie sogar recht damit.

Doch "Gesichter" ist mehr als nur ein Roman über eine psychotische Störung, die mit schweren akustischen und visuellen Halluzinationen einhergeht. "Gesichter" ist auch ein Roman über die Not einer Kinderbuchautorin, die sich gedrängt sieht, mit den eigenen, und mehr noch, mit den Erwartungen der anderen zurecht zu kommen. Was ist gute Literatur? Was wird von wem gewertschätzt oder als belanglos verworfen? Und warum?

Über Paranoia lässt sich auch auf Dänisch dichten

Die gehässigen Stimmen werfen Lise Mundus vor, dass sie, die gerade mit dem "Kinderbuchpreis der dänischen Akademie" ausgezeichnet wurde, nie einen eigenen Gedanken gehabt, sondern alles nur aus Büchern übernommen habe, "die von Leuten geschrieben wurden, die etwas davon verstehen." Lise zerkratzt einer Mitpatientin das Gesicht, weil sie meint, die verleumderische Stimme komme von ihr. Dann aber gesteht sie sich verschämt ein, einmal einen Satz aus den Märchen der Gebrüder Grimm gestohlen zu haben. "Sie war gnadenlos enttarnt worden und es gab keinen Frieden mehr auf der Welt."

Während Sätze wie diese ein wenig kraftlos wirken, treffen andere umso brutaler. Stark ist Tove Ditlevsen nicht so sehr in den reflektierenden, als vielmehr in den szenischen Passagen des Romans. Als Lise in ihrer Einsamkeit und Verzweiflung Trost bei einem Gedicht zu finden sucht, sich aber an keins zu erinnern vermag, kommen Gert und Gitte ihr in bösartiger Absicht zur Hilfe. Sie flüstern ihr Verse aus einem ihrer eigenen Gedichte zu und höhnen dann, wie grässlich sie seien. "Der Modernismus ist nie bei ihr angekommen. Die Jugend lacht über sie."

Die Lyrik, die hier als nicht zeitgemäß verhöhnt wird, ist die Lyrik Tove Ditlevsens. Keine andere als sie selbst ist es, die das zitierte Gedicht geschrieben hat. Und sie ist es auch, der von den selbstgefälligen männlichen Kritikern ihrer Zeit vorgeworfen wurde, dass ihre Literatur schlicht und traditionell sei und dem modernistisch-avantgardistischen Selbstverständnis der 1960er Jahre nicht standhalten würde. Und natürlich hat Tove Ditlevsen auch nie den begehrten Preis der dänischen Akademie erhalten. Trotz, oder wahrscheinlich wohl gerade wegen ihrer vielen begeisterten Leserinnen und Leser. Dass Ditlevsen ihre Figur Lise Mundus nun ausgerechnet einen Preis gewinnen lässt, den die dänische Akademie nie vergeben hat, und wohl auch nie vergeben wird, nämlich einen Preis für Kinderbücher, ist ein deutlich ironischer Hieb gegen die Literaturkritik der Zeit. Mag dieser Hieb auch von der verzweifelten Lise Mundus kommen, die Erzählerin, und mit ihr auch die Autorin Tove Ditlevsen, wissen, wem Ehre gebührt.

Das macht zwar die Angst, das Gesicht zu verlieren nicht kleiner, hindert aber auch nicht daran, sich selbstbewusst in die Reihe großer Autoren wie Rilke oder Baudelaire zu stellen, auf die im Roman öfter verwiesen wird. Tod, Krankheit, Paranoia, Angst und Verzweiflung - darüber kann man nicht nur auf Deutsch oder Französisch dichten, sondern auch auf Dänisch.

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