Tour-Auftakt der Stones:Unsere Leichen leben noch <p></p>

Die "Rolling Stones" starten ihre Europa-Tournee in der Münchner Olympiahalle - da möchte man ganz sentimental werden.

KARL BRUCKMAIER

(SZ v. 06.06.2003) In den siebziger Jahren schrieb Rudolf Herfurtner einen Roman, in dem die männlichen Protagonisten Esso heißen und Mozart und Django, die Frauen heißen Titti und kriegen eine gescheuert, wenn sie auf dem Sozius der Harley zu stark herumzappeln. Einer der Jungs heißt Erich Kuderna und ist Kohlenfahrer. Gewesen. Seit er die Tochter des Chefs geheiratet hat, darf er sich im Verkauf beweisen. Ein Prolet, nicht wahr, Volksschüler, Rocker, auf dem Weg nach oben. Und Oben hat einen Rasen und eine Hollywoodschaukel. Da sieht Erich Kuderna vom Auto aus ein Plakat: Die Stones sind in der Stadt!

Tour-Auftakt der Stones: Die Medien haben über Jahre, nein, Jahrzehnte das kollektive Erstaunen über das Nicht-Sterben dieser Musikantentruppe mit der größten anzunehmenden Sündendichte pro Bühnenquadratmeter so breit getreten, dass die Runzeln und Falten und Bauchansätze und Kleinglatzen und Leibärzte und Dialyse-Assistenten keine wirkliche Rolle mehr spielen.

Die Medien haben über Jahre, nein, Jahrzehnte das kollektive Erstaunen über das Nicht-Sterben dieser Musikantentruppe mit der größten anzunehmenden Sündendichte pro Bühnenquadratmeter so breit getreten, dass die Runzeln und Falten und Bauchansätze und Kleinglatzen und Leibärzte und Dialyse-Assistenten keine wirkliche Rolle mehr spielen.

(Foto: dpa)

Es ist die Tournee von 1973, und wir ahnen es, Erich Kudernas kurzer Ausflug in die eigene Rock'n'Roll-Vergangenheit muss scheitern. Auch die Gegenwelt aus Lederklamotten und Drogen und Sex kann die Leere in seinem Herzen nicht füllen, seufz und Schluss. Der interessanteste Satz des Textes lautet: "Erich Kuderna ist erst achtundzwanzig Jahre alt, aber er denkt an seine Jugend schon zurück." Bei der Rolling Stones-Tournee von 1973 dominierte also bereits eine nostalgische Komponente, die Musik spielte mehr im Kopf als auf der Bühne, die Relevanz der Songs speiste sich aus dem Sog einer nur halb bewusst miterlebten Vergangenheit, aus der grundsätzlichen Kraft eines rückwärts gewandten Zeitpfeils: Dabei hatten die Stones gerade "Exile on Main Street" aufgenommen, jene Platte, die heute als ihre unumstritten beste gilt. Sonnenkönige auf dem Höhepunkt ihrer Regierungszeit.

Und bei der Tournee 1976 hatte der Akt des Konzertbesuchs bereits etwas Surreales, als würde man in einer Comic-Realität uralte Männer aufsuchen, die mit all ihrer Weisheit und einer Magnum-Flasche Dom-Perignon auf dem Gipfel eines von Cannabis-Wolken eingehüllten Berges hausen, um gegen geringe Gebühr kurz vor ihrem Hinübergleiten ins Jenseits noch ein wenig von ihrem Wissen mitzuteilen. Da waren Jagger und Richards Anfang Dreißig, aber eben zum Tode verurteilt, eigentlich schon spät dran. Alle großen Rockstars starben jung. Das war Pflicht. Das war der Preis. Verrecken sollt Ihr, auf dass wir Euch ewig lieben können. Ewig Eure jungen Fratzen küssen. Ewig Eure jungen Stimmen hören. Eure glatte Haut lecken. Brian Jones hat es Euch doch vorgemacht. Ein Konzert noch, Richards, dann bist Du fällig, schau Dich doch an. Du wirst alt. Und Jagger, Du steigst Politikergattinnen nach, muss man sich mal vorstellen. Könnte ihm mal jemand zeigen, wo die Nadel hängt?

Dreißig Jahre später, wenn all die Erich Kudernas und auch wir Rasen und Hollywoodschaukel kurz verlassen, um zum Rolling Stones-Konzert in die Münchner Olympiahalle zu fahren, spielt das Alter eine völlig andere Rolle. Die Medien haben über Jahre, nein, Jahrzehnte das kollektive Erstaunen über das Nicht-Sterben dieser Musikantentruppe mit der größten anzunehmenden Sündendichte pro Bühnenquadratmeter so breit getreten, dass die Runzeln und Falten und Bauchansätze und Kleinglatzen und Leibärzte und Dialyse-Assistenten keine wirkliche Rolle mehr spielen. Die Rolling Stones haben überlebt, links und rechts wurde gestorben, aber nicht im Zentrum des Wirbelsturms. Und auch wir haben überlebt, haben überleben dürfen. Sonst wären wir ja nicht hier, logisch. Ist auch eine Leistung.

Und deswegen pilgern auch heute noch Zehntausende zum Stones-Konzert, legen beachtliche Eurobündel als Opfergaben ab, kaufen Tickets, Leuchtzungen, Schlüsselbänder, Sitzkissen, tragen T-Shirts von der So-und-so-Tour von 1999, von 2002 in den USA, von 1990, frischgebügelt und immer in Ehren gehalten: Nicht unter Leitern hindurch gehen, schwarzen Katzen ausweichen, Stones-Konzerte aufsuchen und alles wird gut.

Man muss nicht so tun, als machten Jugendliche einen nennenswerten Anteil des Publikums aus, nein, Bäuchlein, Halbglatze, Orangenhaut rules und geraucht wird auffällig wenig im Rund, nicht einmal Zigaretten - so what, wie der Herr, so's Gscherr. Der Wahrheit kann man zwei Stunden lang in die Videoleinwand sehen: Ich ist kein anderer als, sagen wir mal, Ron Wood. Und Mick Jagger ist fitter, schlanker, schöner, immer noch, schnell zu Fuß, aber dafür würden wir nie "Müntschen issd Spppitssse!" heraufwürgen, niemals. Und Keith Richards, was ist mit ihm los? Selten hat er beide Hände gleichzeitig in der Nähe seines Instruments, aber wir hören doch eine Gitarre? Wird wohl Ron sein. Muss Ron sein, oder? Die Musik kann mit der Präsenz der Musiker schon lange nicht mehr mithalten. Das merkt man etwa am Applaus für Charlie Watts, wie gerne das Publikum hier ein Lebenswerk ehrt und sich den Teufel schert um einen verpatzen Einsatz oder um die zwei Nummern, die Keith singen darf, links gestützt von vier Bläsern, rechts von drei Sängern, damit das Nichts von einem "Slipping Away" und "Before They Make Me Run" nicht in sich zusammenfällt.

Schon die Performances bei der letzten Stadiontournee hatten nicht mehr den Druck und die Aggressivität, die Jagger und Genossen erstaunlicherweise Anfang und Mitte der neunziger Jahre noch entfalten konnten, perfekte Reproduktionen des eigenen Musikmythos. Heute gerät alles runder an den Ecken, weicher, harmloser, ein wenig schlampiger. Der "Midnight Rambler" will zwar noch seine gefürchteten Kreise ziehen, aber auch er muss um spätestens halb zwölf daheim sein, um den Babysitter auszulösen; der "Streetfighting Man" entschuldigt sich gleich als erstes, dass alles doch nur Rock'n'Roll sei. Und wenn bei "Satisfaction" am Schluss die Konfettikanonen böllern, als sei Pokalfinale, dann ist das ein schönes Bild für den Zustand der Musik und der Show. Laut ist es, bunt ist es, teuer ist es und es macht was her, aber gab es nicht auch eine Zeit, als statt einer Million roter Papierschnipsel ein paar Handvoll Rosenblätter ins Publikum gestreut wurden, von Mick Jagger höchstpersönlich? Mollakkord. Jetzt bloß nicht selbst in die Nostalgiefalle trapsen. Arbeitsplätze wären in Gefahr. Eichel und Clement schrecken hoch. Entwarnung: Alles paletti.

Schön ist "Brown Sugar" auf der kleinen Zusatzbühne mitten in der Arena. Schaurig an selber Stelle "I'm a Man". Bierbecher fliegen. Fast makellos: "Love in Vain", Robert Johnsons alter Country-Blues-Song aus den dreißiger Jahren, auch ein kleines Memento, welche Verdienste sich die Stones um die afroamerikanische Musik erworben haben, als Wiederentdecker, als Modernisierer, als Tantiemenbringer und korrekt abrechnende Geschäftsleute.

Einige selten live gespielte Songs aus der "Let it Bleed"-Zeit bilden im Mittelteil der Show das hoch willkommene Zuckerl für die Fans, "Live With Me", "Monkey Man", dann ist es wieder Zeit für die Gassenhauer, "Honkytonk Women", "Jumping Jack Flash", das mit einer kleinen, bezeichnenden Geste endet. Ron Wood nimmt seine Gitarre ab, greift sie am Hals, schwingt sie über den Kopf, holt aus, lässt sie bodenwärts sausen, besinnt sich, bremst sie ab, lässt die Bewegung in einem Ausschwingen enden, als schlage er auf dem Golfplatz ab: Alles halb so wild, Ladies and Gentlemen, alles halb so wild am Abend, am späten Abend einer Karriere.

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