Süddeutsche Zeitung

Top Ten der ungelesenen Bücher:Endlich Nichtleser!

Eine britische Umfrage beweist, was wir immer schon ahnten: 55 Prozent der "Leser" kaufen Bücher nur "zur Dekoration". Auf der Hitliste nicht zu Ende gelesener Werke belegt "Harry Potter" einen Spitzenplatz.

Alexander Menden

Paul Hindemith wird die Sentenz zugeschrieben, es sei "ein Zeichen geistiger Freiheit, einen Bestseller nicht gelesen zu haben". So gesehen, müsste das Ergebnis einer kürzlich angestellten britischen Umfrage ein Richtmaß für die geistige Freiheit englischer Leser sein. Die Befragung von 4000 Erwachsenen hat eine Top Ten ungelesener oder nicht zuende gelesener Bücher ermittelt. Die beiden Listen in den Sparten Belletristik und Sachbuch kann man grob in drei Kategorien unterteilen: Ratgeber, Klassiker und saisonale Bestseller.

Die erstaunlichste Erkenntnis der britischen Umfrage ist aber, dass mehr als die Hälfte aller Befragten die Lektüre der gekauften Bücher gar nicht erst in Erwägung ziehen. Fünfundfünfzig Prozent sagen, sie kauften Bücher nur "zur Dekoration"; Dostojewski und Rushdie verliehen ihrem Bücherregal die gewünschte intellektuelle "Glaubwürdigkeit".

Unter den tatsächlich begonnenen Romanen führt "Jesus von Texas" des australischen Autors DBC Pierre die Negativliste an: Ganze 35 Prozent der Befragten, die es begonnen hatten, lasen das Buch nicht zu Ende. Auf den Plätzen zwei und drei liegen J.K. Rowlings "Harry Potter und der Feuerkelch" und "Ulysses" von James Joyce. Es folgen: "Corellis Mandoline" (Louis de Bernières), "Der Wolkenatlas" (David Mitchell"), "Die Satanischen Verse" (Salman Rushdie), "Der Alchimist" (Paulo Coelho), "Krieg und Frieden" (Leo Tolstoi), "Der Gott der kleinen Dinge" (Arundhati Roy) sowie "Verbrechen und Strafe" (Fjodor Dostojewski).

Bei den Sachbüchern liegen "The Blunkett Tapes" vorn, die Erinnerungen des ehemaligen britischen Innenministers David Blunkett, gefolgt von "Mein Leben" von Bill Clinton und dem gleichnamigen Buch von David Beckham. Dem Desinteresse anheim fielen auch der Interpunktionsratgeber "Eats, Shoots and Leaves" von Lynne Truss, "Endlich Nichtraucher!" (Alan Carr), "Downing Street No. 10. Die Erinnerungen" (Margaret Thatcher) und "Ich mach dich schlank" (Paul McKenna).

Bei Ratgebern für Raucher und Übergewichtige fällt die Erklärung fürs Scheitern vergleichsweise leicht. Hier kommt es vor allem auf die Wirkungsweise der angepriesenen Programme zum Abnehmen und Nichtrauchen an, die oft die Willenskraft und das physische Durchhaltevermögen der Leser überfordern. Klassiker wie "Krieg und Frieden" und "Ulysses" stellen ebenfalls eine körperliche Herausforderung dar: Vierzig Prozent der Befragten geben zu, sich einfach nicht lang genug konzentrieren zu können, um so lange Bücher durchzulesen. Doch beim Erwerb eines "Guten Buches" und anschließenden Lektüreverzicht entscheidet wohl vor allem jener Kaufimpuls, den Rachel Cugnioni vom Verlagshaus Vintage so zusammenfasst: "Viel zu häufig kaufen die Leute Bücher im Glauben, dass sie 'gut für sie' sind, und nicht, weil sie denken, dass sie ihnen Freude machen werden."

Die Kunst des Beiseitelegens

Memoiren wie die der Clintons, Beckhams und Thatchers sind beliebte Geschenke; zudem wird das Leserinteresse durch passagenweisen Vorabdruck in Tageszeitungen geweckt. Ein Beispiel sind die "Blunkett Tapes". Auszüge über die Affäre des ehemaligen Innenministers mit einer Journalistin, die später zu seinem Rücktritt führte, standen bereits eine Woche vor der Buchveröffentlichung im Guardian. Andere Bücher, wie "Corellis Mandoline" erfahren nach Verfilmungen einen Verkaufsschub, profitieren von guten Rezensionen oder Auszeichnungen wie dem Booker-Preis, den "Jesus von Texas" 2003 gewann.

In den meisten Fällen entspricht das Werk dann nicht den Erwartungen und wird beiseitegelegt. Sonderstellungen nehmen wohl der "Feuerkelch" und "Die Satanischen Verse" ein: J.K. Rowlings vierter Harry-Potter-Roman verdankt seinen unbestreitbaren Erfolg vor allem treuen Lesern unter 16, während die befragten Erwachsenen Erschöpfungserscheinungen zeigen. Der Kauf von Rushdies Roman wiederum galt lange Zeit als solidarische Geste - eine Aura, die das Buch auch nach der Lockerung der Fatwah gegen den Autor weiter zu umgeben scheint.

Den Verlagen und Buchhändlern sind die Gründe für gute Verkaufszahlen eher gleichgültig. "Wichtig ist nur, dass die Bücher überhaupt gekauft werden", sagte ein Sprecher der Handelskette Waterstone's zu den Umfrageergebnissen. Diese Haltung deckt sich mit derjenigen deutscher Kollegen. Das Börsenblatt zitierte jüngst die Augsburger Buchhändlerin Anja Völlger mit dem Satz, man solle die "Kulturtapete daheim" nicht schlechtreden: "Wir leben alle davon."

Der Münchner Kollege Michael Lemling pflichtete bei: "Wir leben auch davon, dass Bücher nicht ganz gelesen werden." Es gibt allerdings Ausnahmen. Andrew Franklin, britischer Herausgeber von "Eats, Shoots and Leaves", hat scharf auf das Umfrageergebnis reagiert: "Diese Leute", sagte Franklin, "müssen die Intelligenz von Plankton besitzen, wenn sie es nicht einmal durch die 204 Seiten eines witzigen, lesbaren Buches schaffen."

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SZ v. 22.3.2007
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