Süddeutsche Zeitung

Tomi Ungerer: "Und jetzt du":Bloß kein Puschi-muschi

Tomi Ungerer ist 2019 gestorben, aber vor allem seine Kinderbücher leben weiter. Zu seinem 90. Geburtstag ist jetzt seine Gute-Nacht-Geschichte "Und jetzt du" zum ersten Mal auf deutsch erschienen.

Von Roswitha Budeus-Budde

Es ist eine literarische Entdeckung, dieses Gute-Nacht-Buch mit dem Text von William Cole und Illustrationen von Tomi Ungerer. 1963 erschien es in New York bei World Publishing unter dem Titel "Frances Face-Maker". Aber jetzt erst ist es auf deutsch herausgekommen, kurz bevor Tomi Ungerer 90 geworden wäre. Übersetzt von Anna Cramer-Klett erscheint es bei Diogenes. Es geht darin um ein kleines Mädchen, dem wie allen Kindern abends immer noch tausend Dinge einfallen: "Genauso war's auch / bei Familie McGee / und ihrer Tochter der kleinen Franzi. / Bis eines Abends / dem Papa was einfiel: / Heute spielen wir ein neues Spiel". Das Spiel heißt "Gesichter machen".

William Coles Text inspiriert Tomi Ungerer dazu, das karnevaleske Mitmachspiel in seinen typischen Kreidekohlestrichen zu inszenieren. Das Mädchen übt die wildesten Grimassen, zieht eine böse Fratze, gruselt sich, führt sich würdevoll auf wie eine Zicke oder liegt niedergeschlagen im Bett. Mit der Zeile "Und jetzt du" werden wir von Bild zu Bild aufgefordert mitzuspielen. Reicht dieser emotionale Egotrip zum Einschlafen? Der Blick des Mädchens zum Vater gibt die Antwort: "Eins fehlt noch zum guten Schluss: Franzi wartet auf ihren Gute-Nacht-Kuss."

In diesem Bilderbuch zeigt sich wie Tomi Ungerers Mischung aus Idylle, Skurrilität und drastischer Realität auch seine Sicht auf die Kinderliteratur bestimmte. "Heile Welt-Geschichten" verurteilte er und sagte einmal, er habe viele Jahre nicht für Kinder geschrieben und gezeichnet, "weil es so viele Titel gibt, einer schlimmer und süßer als der andere. Es gibt so viel Puschi-muschi, Fischi-faschi".

Die Zeit, in der Ungerer "Und jetzt du" illustrierte, fiel für ihn in die schwierige Lebensphase, in der er ab 1956 versuchte, in den USA Fuß zu fassen. In der prüden, konservativen Gesellschaft der Zeit kam er nicht an, geriet mit seinen Illustrationen, mit Werbeaufträgen und politischen Kampagnen sogar ins Visier des FBI. Und als die Bände "The Party" (1969) und "Fornicon" (1971) erschienen waren, musste er nach Kanada auswandern.

Auf der ersten Seite von "Und jetzt du" sieht man ihn vielleicht deshalb selbst als Narr mit zwei Gesichtern, fröhlich und traurig zugleich. Er kündigt seine Gute-Nacht-Geschichte an - getarnt unter der Schellenkappe.

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