Tomas Venclova: "Variation über das Thema Erwachen":Landschaft der Unfreiheit

Lesezeit: 3 Min.

Blicke auf sein Land aus größter Nähe und Distanz wechselt der litauische Dichter Tomas Venclova ab. Hier die Kathedrale der Hauptstadt Vilnius. (Foto: ryhor via www.imago-images.de; Verlag/imago images/ryhor)

Stimme der Weltliteratur: Nach einem Leben als Dissident und Exilant ist Litauens größter Dichter Tomas Venclova zurück in Vilnius. Seine Gedichte der letzten 20 Jahre verdichten eine Epoche aufs Detail.

Von Nico Bleutge

Die Erinnerung - vielleicht ist sie nicht nur eine suchende Bewegung, sondern auch eine eigene, hauchdünne Schicht, in der sich die Momente der Vergangenheit sammeln. Eine "unsichtbare Sphäre", wie es Tomas Venclova einmal nennt, "die wie ein Eislicht / flimmert über der sichtbaren Welt". In dieser Sphäre wechseln die Erscheinungen ständig. Eben noch sind die Juni-Winde einer Seelandschaft spürbar, schon hört man das dumpfe Geräusch eines Motors, um gleich darauf die Baumschatten an einer Wand zu erleben, an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit.

In seinen Gedichten beschreibt sich der litauische Dichter Tomas Venclova immer wieder als Dichter des Partikularen. "Alles fließt", der berühmte Satz Heraklits erinnert ihn an seine Neugier auf das, "was ein einziges Mal nur war und sein wird". Und tatsächlich finden sich zahllose Einzelheiten in seinen Versen, nicht nur Wahrnehmungsmomente oder Landschaftsskizzen, gerade auch historische Splitter. Dabei kann es sich genauso um die Welt der Stadt Klaipėda vor Beginn des Zweiten Weltkriegs handeln, wo Venclova 1937 geboren wurde, wie um Erzählungen vom Tag des Mauerfalls in Berlin.

Die Erinnerung hängt manchmal auch an der Form, dem Rhythmus oder Versmaß

Diese unterschiedlichen Elemente sind stets in eine Reflexionsbewegung eingelassen, in der sich Beobachtung und Imagination durchdringen. So hat man beim Lesen den Eindruck, es gehe Venclova nicht nur um eine Feier der Einzelheiten, sondern darum, aus den Teilen die jeweilige Essenz zu destillieren. Um der Vergänglichkeit zu trotzen. Allein die Sprache mit ihrem Rhythmus, ihrem Klang und ihren Bedeutungsfächern, scheint es, kann der Zeit, dem "gefinkelten Zensor", etwas entgegensetzen.

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Und diese Sprache besteht bei Venclova immer aus mehreren Tönen, vom flapsig hingetupften Alltagswort bis zur pathetischen Geste. In gleicher Weise holt er die Stimmen der Toten in seine Verse: Erzählungen verstorbener Freunde oder Zitate wahlverwandter Dichter wie Derek Walcott. Vor allem aber Erinnerungen an die zahlreichen Opfer historischer Verbrechen und systemischer Gewalt. Dazu Motive aus antiken Mythen oder aus der Bibel.

Feiner sind jene Anspielungen, die in die Struktur der Gedichte eingegangen sind: Odenformen, Hymnen, bestimmte Versmaße, die sich auch bei Ossip Mandelstam finden oder bei W.H. Auden. So schreibt Venclova Verse, die sich konkret auf die Welt seiner Wahrnehmungen und seiner Lebensgeschichte einlassen und in denen doch die ganze Tradition und das Wissen um historische Bruchstellen mitschwingt. Was sich beim Lesen auffaltet, sind Bilder einer "Landschaft der Unfreiheit", wie es einmal heißt - und immer wieder glimmt eine dünne Hoffnung in Venclovas Gedichten auf, es könnte doch so etwas wie eine "andere Ordnung" geben.

Tomas Venclova: Variation über das Thema Erwachen. Gedichte. Aus dem Litauischen von Cornelius Hell. Mit einem Nachwort von Michel Krüger. Edition Lyrik-Kabinett. Carl HanserVerlag, München 2022. 112 Seiten, 20 Euro. (Foto: N/A)

Als Sohn des regimetreuen Schriftstellers Antanas Venclova war er zu Sowjetzeiten in Litauen in manchen Situationen vor Verfolgung geschützt. Zugleich galt er dem Regime schon früh als "Person mit unannehmbaren Auffassungen", wie er es in einem Gespräch genannt hat. Erschöpft von der dauernden Überwachung durch den Geheimdienst, konnte er 1977 in die USA emigrieren, wo er in Yale Literatur unterrichtete. Heute lebt er wieder in Vilnius. Doch Venclova ist nach wie vor unterwegs. Einer der Reisen zwischen den USA und Litauen hat er ein ganzes Gedicht gewidmet. Im Flug über Städte und Landschaften blickt der Sprecher melancholisch auf seine Gegenwart und lässt nacheinander Uranos, Kronos und Mnemosyne durch die Verse streifen.

Dieser Hang zur Vermischung von "Kontinenten, Lagunen, Epochen" kommt nicht immer ohne allgemeine Sätze aus, die sich mitunter zur Sentenz verfestigen: "Der Mensch, wie man weiß, hat als Einziger auf der Erde / so viel Weisheit, dass er mächtiger ist / als die Naturgewalt." Weitaus stärker ist Venclova dort, wo er das Vergehen der Zeit und die politische Deutung in vermeintlich winzige Details einlagert: "Auf die (...) Schneewehe eines Cappuccinos / drückt die Last des Zuckers, / die Finger wühlen im Tischtuch, Terpentin / dringt ein in die Panzer der Thujen".

Die Auswahl dieses Bandes, an der Venclova selbst mitgearbeitet hat, zieht eine schöne Spur durch seine Gedichte der letzten 20 Jahre. Der Übersetzer Cornelius Hell hat vor allem Venclovas Rhythmus grandios nachgebildet, das Spiel mit Metren und den Wechsel der Versgeschwindigkeit. An manchen Stellen greift er noch tiefer ins Pathosregister als der Autor selbst, etwa bei Formulierungen wie "am Strande" oder "im Schoße". Dafür findet er sehr schöne Lösungen für jene Reime, mit denen Venclova, der Dichter des Erinnerns, seinen Band beschließt: "Die Gewölbe, unbewohnt, fließen / über Zellen, die zwecklos geworden. / Dem Skelett eines Klosters entsprießen / statt Nirvana nur Steine hier oben."

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