Wenn der Erzähler einschlafen will, gehen ihm Wörter und Sätze durch den Kopf. Dann kommt es ihm so vor, als wäre das Innere seiner Augenlider ein umgedrehtes Blatt Papier, auf dem jemand schreibt. Nicht vorsichtig gesetzte Buchstaben, sondern Wörter, die "mit voller Kraft einschlagen", sodass sie leuchten, sodass der Erzähler sie im Notizbuch festhalten muss. Dieses Einschlagen von Wörtern hält ihn wach, ja, es scheint der Kern seiner Vorstellung vom Schreiben zu sein: "Sie leuchteten auf, wie wenn man eine Lampe an- und gleich wieder ausmacht, sie schlugen ein und leuchteten auf, als wären sie voller Bedeutung, von einem tieferen Sinn erfüllt, als enthielten sie ein ganzes Buch."
Die Wörter schlagen ein bei diesem Erzähler, und dieses Einschlagen hält ihn wach
Sätze, die so dicht gefügt sind, dass sie leuchten, sind die Spezialität des norwegischen Schriftstellers Tomas Espedal. Dabei geht es ihm immer auch um die Lücken und Brüche der Erinnerung, um den blinden Fleck, in dem Vergangenheit und Gegenwart, das Sprechen und die Stille, Erfindung und die Erforschung der eigenen Geschichte ununterscheidbar werden. In seinem großen Buch über das Gehen, auf Deutsch 2011 erschienen, ist es die Bewegung, die den Sätzen ihren leuchtenden Untergrund einzieht. In "Wider die Natur", das im letzten Jahr bei uns herauskam, einem Erzählgeflecht über die Verrückungen und Paradoxien der Liebe, bleibt das Denken an den immer gleichen Erinnerungsmarken haften, "wie wenn die Schlange der Schlange in den Schwanz beißt und von der Schlange in den Schwanz gebissen wird".
Seine atmosphärische und reflexive Kraft gewinnt Espedals Schreiben daraus, dass nicht nur die Emotionen und Gedanken durch all ihre widersprüchlichen Impulse gejagt werden, sondern auch das Schreiben selbst. Eben noch gleicht es einem energetischen Apparat zur Erzeugung von Leuchtspuren, schon kippen die Ideen, und die Sätze sollen "weich sein wie Wachs" oder an natürliche Formen erinnern: "organische Buchstaben, kleine Auswüchse auf dem Papier, wie erstarrter Schleim oder gepresste Blumen, Weizen oder anderes Getreide, aber in schwarzen Zeichen, unlesbar und schön".
Unlesbar indes sind Espedals schwarze Zeichen keineswegs. Wie die Rede von den organischen Lettern andeutet, sind in diesem Schreiben das vermeintliche Leben und die Fiktion eng verwachsen. "Wider die Kunst" beginnt mit einem Schock: "Uns ist gemeinsam, meiner Tochter und mir, dass wir beide unsere Mütter verloren haben. Ich habe meine Mutter im April verloren, sie ihre im September". Der doppelte Tod, ein Pendant zum Verlust der Geliebten in "Wider die Natur" (eigentlich ist das Verhältnis umgekehrt, im Original ist "Wider die Kunst" früher erschienen als "Wider die Natur"), setzt eine Erinnerungsbewegung frei. Ausgehend vom eigenen Namen, "mein erster Name wurde in einer Fabrik hergestellt", der ebenso wie die Lebensgeschichte nah am Autor Tomas Espedal angesiedelt ist, beginnt der Erzähler Fotos und Briefe, Berichte und Notizen, Erinnerungs- und Wahrnehmungsfetzen zu sondieren.
Dabei ist ihm die Idee einer klaren Chronologie fremd. "Sie sprang in der Zeit vor und zurück (. . .), es gab keine Zeit für sie, alles, was sie erzählte, vermischte sich zu einer einzigen, hier und jetzt", heißt es einmal über die Großmutter. Und so ähnlich verfährt der Erzähler selbst. Ins Hier und Jetzt des Schreibens schleust er die unterschiedlichsten Gedächtnisbilder ein, vermischt sie mit den Momenten seiner Gegenwart. Wir folgen der Geschichte seiner Großeltern, der Beziehung zum Vater und zur Mutter, der Liebe zu seiner Tochter, nur um bald schon mit dem Erzähler hellwach auf dem Bett zu liegen, die Wolken, den Himmel und das Haus zu sehen, mit den Augen über die Wände des Zimmers zu wandern, hin zu den Büchern auf dem Nachttisch und den Notizheften "in Umschlägen von derselben Farbe wie das Haus". Oft sind die Szenen so eng geschnitten und im Präsens verschränkt, dass sich im ersten Moment gar nicht entscheiden lässt, wer hier eigentlich spricht.
Nicht von ungefähr ist Espedal, 1961 in Bergen geboren, immer wieder mit dem anderen norwegischen Selbst-Erzähler verglichen worden, mit Karl Ove Knausgård. Doch wo Knausgård schreibend in die Fläche geht und bisweilen fast listenartig die Einzelheiten skizziert, schleift Espedal seine Sätze zu, mal "hart wie Stahl", mal in der Art von erstarrtem Schleim, immer aber mit einem Hang zur atmosphärischen Vergegenwärtigung. So erinnert er eher an den dritten großen norwegischen Autor, dessen Bücher regelmäßig ins Deutsche übersetzt werden: an Per Petterson. Zwar tragen Pettersons Ich-Erzähler meist erfundene Namen, aber die Liebe zur Gleichzeitigkeit, das Umkreisen der Stille, die Suche nach dem Ich und nach Sätzen, die etwas von der winterdunklen Landschaft einholen, finden sich auch bei ihm.
Ins Hier und Jetzt des Schreibens schleust Espedal seine Gedächtnisbilder ein
Der Erzähler selbst allerdings vergleicht sich lieber mit Peter Handke. "Wunschloses Unglück" heißt das berühmte Buch, das Handke kurz nach dem Selbstmord seiner Mutter schrieb. Damals notierte Handke, "höchstens im Traumleben" werde die Geschichte der Mutter für kurze Zeit fassbar. Doch gerade da fielen äußerstes Mitteilungsbedürfnis und äußerste Sprachlosigkeit zusammen. "Deswegen fingiert man die Ordentlichkeit eines üblichen Lebenslaufschemas", so Handke, "indem man schreibt: ,Damals-später', ,Weil-Obwohl', ,war-wurde-wurde nichts'".
Tomas Espedal tut nichts dergleichen. Ja, vielleicht geht es im tiefsten Inneren des Buches nicht einmal um ein Porträt der verstorbenen Mutter, sondern um den Weg des Erzählers zum Schreiben. Immerhin, es ist die Schreibmaschine der Mutter, auf der er seine ersten Zeilen tippt. Auch als er zum Studium nach Kopenhagen zieht, hat er die Maschine dabei. In einem kleinen Zimmer im Studentenwohnheim haust er mit einer Frau namens Linda, lässt sich auf eine Amour fou ein, die aber ganz dem Schreiben dient. Während Linda außer Haus ist, arbeitet der Erzähler an seinem ersten richtigen Roman - und beide erleben auf ihre eigene Weise die verändernde Kraft der Fiktion.
Nirgends wird so zusammenhängend erzählt wie auf diesen knapp 30 Seiten. Sie sind das retardierende Moment in einem Buch, das als Ganzes von Widersprüchen und Vermutungen, Selbstbeschwörungen des Erzählers und aufgebrochenen, bisweilen fast aphoristischen Passagen lebt. Einen Rest von Zusammenhalt verspricht nur der Rhythmus von Espedals Sätzen, den der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel sehr schön im Deutschen nachgeformt hat. Für den Leser entsteht durch diese dauernden Wechsel ein Raum des Vorläufigen und Brüchigen, in dem die vertrauten Zuschreibungen außer Kraft gesetzt sind. Umso mehr fallen jene Sätze auf, in denen Espedal seine Bilder noch einmal eigens deutet oder über Kommentare herausstellt, was er vorher schon in die Struktur der Kapitel eingelagert hat. An solchen Stellen beißt die Schlange der Schlange erzählerisch in den Schwanz.
Espedal inszeniert einen Erzähler, der sich von seinen Verletzungen freizuschreiben versucht, tatsächlich aber auf seine Existenz als Autor zuschreibt. Am überzeugendsten ist er dort, wo er die Einsamkeit und Leere seiner Figuren nicht in den dunkelsten Tönen ausmalt (sogar die Kellner tragen hier manchmal nur "schwarze Hosen, ein schwarzes Hemd"), sondern die lückenhafte Art seines Erzählens mit der Brüchigkeit menschlicher Beziehungen kurzschließt. Im Auffalten des Alltags etwa, den der Erzähler auf einer kleinen Insel vor Bergen mit seiner Tochter zu leben beginnt. Hier fangen die Wörter an zu leuchten - und die Wahrnehmung verändert sich schon bald: "Ein neues Ohr, es wächst aus dem alten heraus. Als wäre die Haut Wachs und würde zu neuen Formen gefaltet. Als würde der Schlaf die Haut dehnen".
Tomas Espedal: Wider die Kunst (Die Notizbücher). Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015. 194 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 16,99 Euro.