Süddeutsche Zeitung

Tom Wolfe zum 80. Geburtstag:Wie heißt das Zauberwort?

Mode, Musik, Film, Revolution, Schreiben: Tom Wolfe gab dem "New Journalism" seine Form und seinen Namen. Leider schrieb er später mittelmäßige Romane. An diesem Mittwoch wird er 80 Jahre alt.

Willi Winkler

Am 5. September 1968 bekommt die Musikjournalistin Ingeborg Schober in London einen Brief von ihrem Bruder in München. Sie arbeitet ein bisschen für den Melody Maker, geht zu Konzerten von Jefferson Airplane und Pink Floyd und treibt sich in der Carnaby Street herum. Die Beatles sind aus Indien zurück und nehmen "Revolution" auf. In den USA haben die Radiosender beschlossen, dass die neue Single der Rolling Stones nicht gespielt wird, weil "Street Fighting Man" die weltweit protestierende Jugend angeblich zur Gewalt aufruft.

"gerade läuft bei mir die neue platte der 'doors': waiting for the sun, die jemand aus schweden mitgebracht hat", berichtet Siegfried Schober in radikaler Kleinschreibung, "du kennst sie wahrscheinlich schon, jedenfalls finde ich sie so große klasse, dass ich mich nun endgültig entschlossen habe, über die 'doors' einen größeren artikel zu schreiben. vielleicht für die 'süddeutsche zeitung', die mir grade ein irres buch zur besprechung gegeben hat. es heißt 'das bonbonfarbene tangerinrot-gespritzte stromlinienbaby' von tom wolfe, dem verrücktesten reporter amerikas."

Wolfe schreibe, wie ein Discjockey von Radio Luxemburg redet. Dann erzählt er noch von einem Film, den er gesehen hat und der "vulgär, poetisch, maßlos, schön, zart und brutal" war, "wie kein anderer junger film der letzten zeit". Rosy-Rosy spiele da mit, eine Schwabinger Busen-Größe, und der Regisseur sei bei der Premiere mit einem verrosteten Maschinengewehr aufgetreten. "wenn du zufällig", so schließt der Brief, "einen billigen robin-hood-hut findest, am besten gebraucht, schwarz oder dunkelbraun, dann bring ihn mit."

Mode, Musik, Film, Revolution, Schreiben - der Brief ist in dieser Mischung von allem und jedem reinster Tom Wolfe. Bis er 1968 in einer heute lachhaften Über-setzung herauskam, gab es ihn in Deutschland nicht einmal als Gerücht. Ob er aber heute mehr ist, als ein gern angerufener Schutzheiliger? Wer nichts weiß, weiß heute doch, dass Tom Wolfe den New Journalism erfunden hat und deshalb mit Vorliebe cremefarbene Anzüge mit passender Weste und Einstecktuch trägt.

Obwohl von Yale mit einem soliden Doktor ausgestattet (Thema der Dissertation: Die Rekrutierungstätigkeit der Kommunisten im amerikanischen Schriftstellerbund), beschloss Wolfe zu seinem Glück, nicht Professor, sondern Journalist zu werden. Er begann in einer Lokalredaktion in einem Proto-Simpsons'schen Springfield und schrieb über die Welt, nämlich über das, was täglich in ihr anfiel. Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte er die normale Ochsentour gemacht, wäre Ressortleiter, dann Chefredakteur, vielleicht sogar Vorsitzender einer ständischen Vertretung mit gelegentlichen Dinners beim Gouverneur und einem Ehrenplatz im Baseballstadium geworden.

Aber dann kam diese Geschichte des Wegs, die er nicht gesucht hatte. Wolfe lernte Leute kennen, für die sich alles um hochfrisierte Autos drehte. Für Wolfe waren das ebenso leidenschaftliche Künstler wie unser armer Poet, "nur dass diese hier in Garagen statt in Dachstuben lebten". Er recherchierte, sammelte Material, studierte Statistiken, sprach mit Monteuren, Konstrukteuren, Fahrern, mit den Polizisten, die diesen jungen Menschen bei ihrem esoterischen Treiben misstrauisch zuschauten. Und dann scheiterte er, am Stoff, an der Geschichte, an allem.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie die Geschichte seines Versagens ihn groß machte.

Die Schreibkrise übermannte den Reporter, er hatte viel zu viel Material gesammelt und brachte es in keine vertraute Form: Die Ich-Erzählung genügte nicht, die distanzierte so wenig wie die teilnehmende Beobachtung. Statt seiner Geschichte brachte er einen Mammuttext in die Redaktion, der sein Scheitern beschrieb. Die Geschichte seines Versagens wurde seine erste große Reportage.

Es wäre allerdings alles nichts geworden, hätte er nicht eine geneigte Zeitung dafür gefunden, ein Magazin wie den alten Esquire, und einen Redakteur, der bereit war, mit Überschriften wie "There Goes (Varoom! Varoom!) That Kandy-Kolored (Thphhhhhh!) Tangerine-Flake Streamline Baby (Rahghhh!) Around the Bend (Brummmmmmmmmmmmmmm) ..." die Leser zu irritieren und zu interessieren.

Niemand, wirklich niemand wagte es zu Anfang der Sechziger eine Geschichte mit dem dreißig Mal wiederholten Ausruf "Hernie!" zu beginnen. Wolfe machte es einfach. Niemand hätte sich anders als breitgesäßig und im Schutzanzug der neuesten soziologischen Termini einem Phänomen wie den Hippies genähert, aber Tom Wolfe hockte sich in seinem creme- oder manchmal auch vanillefarbigen Anzug, auf dem jedes Stäubchen aufgefallen wäre, in einen ausrangierten, kunterbunt bemalten Schulbus zwischen Hippies, Aussteiger und anderweitig durchgeknallte Drogies und notierte, was sie da redeten, wie die Welt auf sie reagierte. Das wurde der "Electric Kool-Aid Acid-Test".

Wolfe hatte selbstverständlich nicht umsonst studiert, er haute alles hinein, was er wusste, schmiss mit den "hard words", den Wörtern lateinischen Ur-sprungs, nur so um sich, im vollen Bewusstsein, dass sie in Geschichten, die von Benzin, Schweiß, Asphalt, von den Beatles und Phil Spector, von neuen Tänzen und der neuesten Musik, insgesamt also von weitgehend hirnfreien Teenager-Vergnügungen handelten, eigentlich nichts verloren hatten.

Aber was heißt schon eigentlich? Tom Wolfe bewies mit seinen Reportagen aus einem für alle sichtbaren Untergrund, dass es kein Thema gibt, das zu klein, zu nebensächlich, zu vulgär ist, so lange es nur gut geschrieben war.

Die Gesellschaft, in die er sich da begeben hatte, musste ihm hoch zuwider sein, aber wurscht egal! Hey, Leute, das war das Neue, die neue amerikanische Wirklichkeit, das waren die Sechziger, das waren die jungen Menschen, und er, Dr. Wolfe aus Richmond, Virginia, im eigenen Verständnis ein Southern Gentleman und aus Überzeugung stockkonservativ, saß mitten unter ihnen und machte begeistert den besten Propagandisten, den die Gegenkultur je hatte.

Schade, wirklich jammerschade ist es, dass dieser Mann, der begabteste Journalist seines Landes, der einmal mit literarischer Raffinesse gezeigt hatte, dass die Romane der neuen Wirklichkeit nicht mehr gewachsen waren, alle Tugenden, die er sich erschrieben, die ganzen Fertigkeiten, die er sich räuberisch angeeignet hatte, über den Haufen schmiss und plötzlich anfing, selber Romane zu schreiben.

Ein Roman, wenn er denn nicht experimentell zerfasert ist, braucht eine Handlung, braucht Anfang und Ende und vor allem eine Haltung. Das hatte Wolfe bis dahin nicht interessiert, aber plötzlich wurde aus ihm ein predigender Kolporteur. So verlor sich sein kindlich begeistertes Staunen vor der Warenwelt, stellte seine ungeheure Kunstfertigkeit in den Dienst einer abgebrauchten Form und wurde langweilig, ein Autor wie jeder andere auch.

Vergesst den Romancier, lest den Reporter Wolfe! Bei ihm findet sich die ganze Welt, und die ist noch immer vulgär, poetisch, maßlos, schön, zart und brutal. Der Dichter weiß, dass sie anhebt zu singen, triffst du nur das Zauberwort. Tom Wolfe waren die Zauberworte sonder Zahl gegeben. Heute wird der ewig junge Journalist Tom Wolfe unglaubliche achtzig Jahre alt.

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SZ vom 02.03.2011/rus
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