Tom Tykwer über digitales Kino:Zwischen Durch

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Bloß nichts weglassen: Der digitale Film hat keinen Raum mehr für Dunkelstellen und Zwischenräume. Das macht den Zuschauer zwar satt, aber es macht ihn auch passiver.

Tom Tykwer

Avatar

Gertrud Koch hat mich erst vor kurzem auf die eigentlich sehr offensichtliche Tatsache aufmerksam gemacht, dass Avatar, jener Film, der gerade in aller Munde ist, nicht nur die technischen Möglichkeiten des Kinos und seiner Immersionspotentiale auslotet, sondern gleichzeitig auch unsere Sehnsucht nach dieser Immersion, unsere Faszination vom Vereinnahmt-Werden durch Fremdidentifikation selbst zum Zentrum seiner Geschichte macht.

Irgendwie war mir bisher nicht aufgefallen, dass dieser Aspekt aus dem Avatar-Plot eine durchaus ungewöhnliche Variante eines sehr vertrauten Topos macht. Denn üblicherweise ist es ja in Erzählungen des Science-Fiction-Genres so, dass die Lebensform von Replikanten den Menschen nachkonstruiert wird, und die Betroffenen, sobald sie ein erweitertes Bewusstsein entwickeln, unter dem Defizit leiden, wie ein Mensch zu fühlen, aber kein Mensch zu sein, sondern eben nur Replikation.

Hier nun, in James Camerons Film, wird der Spieß umgedreht: der Protagonist lässt sich in einen synthetischen Körper beamen und wird per Fernsteuerung in die Welt der Außerirdischen geschickt - um festzustellen, dass sein neues, synthetisches Leben dem "echten" bei weitem überlegen ist. Die Avatar-Konstruktion ist insofern eine Wunschmaschine im wahrsten Sinne des Wortes - und als Objekt unserer Faszination natürlich im Kino bestens aufgehoben. Cameron nutzt dabei die Basismechanismen eines elaborierten Videospiels, in das man sich ja auch erst einarbeiten und alle Arten von Fähigkeiten erwerben beziehungsweise trainieren muss, bevor das synthetische Leben im anderen Ich anfängt, Spass zu machen.

Das Nicht-Ich spielt

Unser Alltag ist, sowohl was die Aufnahme von Informationen als auch alle anderen kommunikativen Prozesse betrifft, gelenkt von Bedieneroberflächen - die Darstellungen im Computer, unserem virtuellen Tor zur Welt, prägen unsere Vorstellungsformen und Phantasieräume; und dem passt sich das moderne Kino an, ob es will oder nicht. Avatar ist ein eher offensichtliches Beispiel, aber auch eigentümlichere Autorenfilmer wie etwa Park Chan-wook oder Richard Linklater zeugen von der wachsenden Präsenz einer Softwarevisualität (und Akustik) im gegenwärtigen kinematographischen Vokabular.

Ein Großteil moderner Software wiederum wird stark von der Game-Industrie beeinflusst: wie man sich in Programmen zurechtfindet, wie strategische und technische Wege zurückgelegt werden - sei es bei naturwissenschaftlichen Forschungsprogrammen oder Suchmaschinenoberflächen hat eine zunehmend spielerische Note, wir arbeiten uns von Level zu Level vorwärts; wir erobern das Wissen, das wir anstreben, per spielerischer Reise in ein Labyrinth aus attraktiv zubereiteten virtuellen Möglichkeiten.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie das Kino des Jahres 2047 aussehen wird.

Unser systematisches Denken und die Abläufe eines organisierten dynamischen Spiels sind also einander nähergekommen - entsprechend verändern sich unsere Bedürfnisse nach Input. Wo kein Spielkonzept erkennbar wird, reagieren wir fremdelnd.

Durch meinen Computer trete ich aber auch in Kontakt mit der Welt, ohne das Risiko einzugehen, physischen Schaden zu nehmen. Und wichtiger noch ist, dass in den meisten Begegnungsforen meine Identität von mir selbst neu zu bestimmen ist: durch einen erfundenen Namen, ein falsches Foto, einen unbekannten Song. Ich bin, wer ich sein will - ein weiteres Motto, das älter ist als alle Computer, allein wenn man dabei ans Kino und seine Angebote an Identifikationsmustern denkt. Nicht "ich" stehe zur Disposition, wenn ich mich im Netz engagiere, sondern mein verbaler, mein imaginierter, mein erträumter, mein Cyber-Avatar.

So haben wir uns daran gewöhnt, erstens inkognito und zweitens spielerisch in die sogenannte Außenwelt zu treten - und welches Medium auch immer diese beiden Parameter umfassend bedient, trifft auf unsere gesteigerte Neugier.

Wie keine andere Kunstform bietet dabei der narrative Film immer noch die überzeugendste Basisstruktur dieser Form von Verzauberung des Rezipienten. Und inwieweit die Potentiale der herkömmlichen Erzählmuster und Darstellungsmethoden ausgereizt sind, ob sie sich grundlegender ändern müssen als in den letzten 100 Jahren - das wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Denn im digitalen Zeitalter werden sich, unmerklich aber zunehmend, unsere Wahrnehmungssensibilitäten umdefinieren.

Schwarze Löcher

Ein technisches Beispiel. Eine der hervorstechenden technischen Eigenarten des Digitalen, die es so eindeutig vom traditionellen Film, also vom auf Zelluloid entwickelten Einzelbildern unterscheidet, ist ja die Tatsache, dass - abgesehen davon, dass die projizierten Bilder nur noch umgewandelte Codes (und ursächlich keine Bilder) sind -, es in der Projektion keine Schwarzfelder zwischen den Bildern mehr gibt - jene Dunkelzone, die durch die Verschlussklappe des Malteserkreuzes erzeugt wird und die dem Zuschauer ermöglicht, nicht vom Durchrutschen jedes Bilds zum nächsten irritiert zu werden. Vielleicht ist diese Besonderheit der altgedienten Bildwerfermechanik überbewertet (Alexander Kluge und Christoph Schlingensief haben das schwarze Feld genauer untersucht), aber es bleibt festzuhalten, dass das Verschwinden dieser Schwarzfelder - die wir ja nicht wirklich sehen, aber dennoch fühlen und erleben, und zwar nicht nur weil sie das Flackern der Projektion erzeugen - auf Probleme hinweist, die sich innerhalb der sogenannten "unbegrenzten Möglichkeiten" der digitalen Filmerzählung entwickeln. Das digitale Narrativ tut sich nämlich schwer mit Zwischenräumen, Ellipsen und Auslassungen.

Die Ellipse als Bezeuger des "alten" Kinos, sie ist ja ein Kind vor allem des Filmschnitts, also etwa der Überwindung des physischen Raums durch die Verknüpfung zweier Ortsbilder, aber natürlich zugleich: der Öffnung eines Assoziationsraums durch das Weglassen von Bildern, die dazwischen liegen könnten.

Seit der Herr der Ringe-Trilogie, die für mich eine filmästhetische Zeitenwende markiert, steht das kinematographische Narrativ zunehmend unter dem Druck - einfach nur, weil es die technischen Möglichkeiten besitzt -, elliptische Potentiale zu reduzieren . Sowohl in seiner "Und dann"-Strategie der parallel, aber ultralinear erzählten Geschichte als auch im Umgang mit Geographie und Figurenzeichnung agiert Peter Jacksons insgesamt über zehnstündiger Film stets unter immensem Vollständigkeitsdruck. Bloß nichts weglassen! Jede Wegstrecke, sei sie topographisch, gedanklich oder metaphysisch, muss in Komplettheit bebildert zurückgelegt werden. Dieser Stil glättet den kompliziert scheinenden Unterbau des Projekts, wie ein präziser Betonspachtel die Oberfläche eines aufgerauten, unebenen Steins, der danach sicher makellos, aber potentiell auch leblos wirkt.

Der Schnitt im populären Kino hat sich in den Nullerjahren stark verändert unter dem Eindruck, dass Orte nicht mehr durch Montage, sondern bevorzugt durch möglichst rasante virtuelle Flugverbindungen darstellbar, erfahrbar werden werden. In Peter Jacksons Mammutfilm ist jeder, aber auch jeder Ort von jeder möglichen Perspektive aus wahrnehmbar, und so entsteht eine Art Überfütterung an Bildinformation pro Objekt, die den Rezipienten zwar satt, aber eben auch passiver werden lässt.

Ich will das hier nicht verallgemeinern, und finde es darüber hinaus auch müßig, sich über teure oder hypertechnische Filme zu beschweren: wir lieben viele solcher Filme, das muss eigentlich nicht betont werden. Dennoch fällt auf, dass wir an ihnen gerade dann besonders hängen, wenn sich das Unvollendete, das Unbeschreibbare, das Unbebilderbare einen Platz bewahrt, wenn sich auch diese Filme nicht anmaßen, alles zu können, alles zeigen zu können, denn das gibt's ja eben gar nicht, dieses "alles". In der Anmaßung versteckt sich der einfältige Gedanke, dass nämlich Abstraktion sozusagen überwindbar ist, wenn man nur das endgültige, definitive, sozusagen perfekte Bild für eine Idee, eine Situation, ein Gefühl findet. Einfältig ist das deshalb, weil alle erzählerischen Bilder, um künstlerisch existent zu werden, zunächst mal von der Leinwand oder dem Bildschirm zurück zum Zuschauer fließen müssen, der sich mit ihnen ja beschäftigen will, und der die Leerstellen, den offenen Raum, die Ellipsen braucht, um sie mit dem Fluid der eigenen Phantasie aufzufüllen, oder eben auch nicht, - der sich entscheiden will, wohin seine Gedanken fließen, und dafür Freiräume braucht.

Es gibt viele solcher mikroskopischen Bereiche des filmischen Ausdrucks, denen im Zuge der Digitalisierung eine Art neuer Textur zuwächst, eine Oberflächenerneuerung, die auch in der Tiefe neue Lesarten, neue Formulierungsdimensionen mit sich bringt.

Fragmentfilme

Die Frage, ob sich das Kino durch seine Innovationen tatsächlich produktiv weiterentwickelt, ließ sich meist im Vollzug seiner Quantensprünge noch nicht beantworten. Sicher ist, dass unsere Sehnsucht, unsere Gier nach immersiven und möglichst plastischen Erzählmodi nicht nachgelassen hat; im Gegenteil.

Zugleich aber ist durch den alltäglichen, stetigen Zugriff auf visuell-akustische Fragmente (in YouTube, Facebook und der Überflutung des Internets durch Teaser und Trailer) ein neues Rhythmusbedürfnis entstanden, das eher auf ein erzählerisches Bienenstock-Modell setzt, in dem eine Vielzahl von individuellen Erzählwaben ihren jeweiligen Anspruch auf in sich geschlossener Kapitelstruktur verteidigen. In dieser etwas gestückelteren narrativen Verknüpfung fällt dem Rezipienten das Zu- und Abschalten leichter - und das Kino nähert sich dabei dem fragmentarischen Prinzip serieller TV-Formate an.

Bedroht also die digitale Revolution einen Typus des filmischen Erzählens, der uns medial so vertraut erscheint, und irgendwie nicht wegzudenken ist wie etwa einem Leser die Märchen der Gebrüder Grimm oder die Epen eines Tolstoi?

Natürlich nicht. Wie alle Innovationen erneuert sie unsere Betrachtungsweisen des Bestehenden, stellt Traditionen auf die Probe - aber sie wird sie nicht abschaffen können.

Und natürlich ist es mitnichten so, dass wir von den neuen Technologien sozusagen genötigt werden, alterprobte mediale Kommunikationsmuster und Erzählprinzipien abzuwählen. Es ist nicht abzusehen, dass Filmemacher sich durch die enorm erweiterten Möglichkeiten des Sichtbarmachens daran hindern lassen, Elemente und Versatzstücke ihrer Geschichten vage und unvollständig erscheinen zu lassen, in Andeutungen zu verweilen, oder statt einem spektakulären Effektbild eher eine stille, schlichte Winzigkeit zu zeigen.

Es ist auch unwahrscheinlich, dass das Publikum für diese Form des Erzählens schwindet. Die Zuschauer, die - beispielsweise - 1927 Buñuels "Andalusischen Hund" und 1987 David Lynchs "Blue Velvet" sahen, sie waren immer schon eine Minderheit, aber eben trotzdem eine zählbare, eine sichtbare, eine relevante. Heute sehen Rezipienten dieser Gattung die Filme von Apichatpong Weerasethakul oder von Matthew Barney oder von Paul Thomas Anderson, und zumindest letzterer scheut sich keineswegs, von den Errungenschaften des digitalen Zeitalters Gebrauch zu machen, ohne dabei den offenen und variabel konstruierten Charakter seiner Arbeiten zu gefährden.

Trotzdem: denken Sie einen Augenblick darüber nach, welcher Unterschied zwischen den beiden vorgenannten Meilensteinen filmischer Avantgarde liegt - Buñuels und Lynchs Arbeiten trennen 60 Jahre -, dann können Sie sich zumindest quantitativ in Ansätzen vorstellen, wie das Kino aussehen mag, wenn wir es uns 60 Jahre nach "Blue Velvet" imaginieren, also sagen wir: im Jahr 2047.

Buñuels Film war schwarzweiß, stumm und eine halbe Stunde lang - Lynchs Film ein äußerst farbintensiver, zweieinhalbstündiger Trip in Dolby Stereo. Der avantgardistische Schlüsselfilm des Jahres 2047 muss schon einiges zu bieten haben, um diese Steigerungslinie fortsetzen zu können.

2047 werde ich, wenn nichts dazwischen kommt, 82 Jahre alt sein und möglicherweise meinen dann 38-jährigen Sohn fragen, ob er mir diesen Film, der vielleicht in 60 Teilen à 90 Sekunden konzipiert ist, per holographischem Beamer in seinem virtual living space mit 360° Wellenklangsystem präsentieren kann.

Und dann lasse ich mir eine Geschichte erzählen.

Der Regisseur Tom Tykwer ("Lola Rennt", "Das Parfum") wird im Herbst seinen neuen Film "Drei" ins Kino bringen.

© SZ vom 22.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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