Es klafft eine erstaunliche Lücke zwischen der unbestrittenen Schönheit des männlichen Vornamens Dirk und seiner popkulturellen Referenzierung. Außer den Sportfreunden Stiller ("Dirk, wie ist die Luft dort oben", 2012) und der Skaband Monkey Beach ("Dirk", 2012) haben sich vor allem Tocotronic um den Namen verdient gemacht. Als Hidden Track verstecken sie auf dem aktuellen Album ein "Date mit Dirk", das nahtlos an den Klassiker des Dirk-Pop aus dem Jahr 1995 anknüpft: "Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk" ist seit damals eine Hymne für Jungen, die in den 1970er Jahren von ihren Eltern mit diesem Namen beschenkt und zu dem Selbstbewusstsein erzogen wurden, über die Grenzen des eigenen Teller- bzw. Landesrandes hinaus zu denken. Die Replik "Was bildest du dir ein?" wurde ihnen zum ständigen Ansporn, sich nicht zufrieden zu geben, bis sie eines Tages vor dem "Public Market Center"-Schild in Seattle stehen und mit einem wissenden Kopfschütteln leise summen: "Was nicht ist, kann niemals sein." Kann es doch - ich weiß, wovon ich spreche. Tocotronic sei Dank!
Zu einer Zeit, als Hamburger Kinder der Legende nach schon in Trainingsjacken in die Hamburger Schule gegangen sind, war meine Allgäuer Heimat noch Tocotronic-freie Zone. In den Sommerferien 1996 fuhr ich aus der südbayerischen Provinz in die nordhessische Provinz zu einem Freund. In seiner alten Karre habe ich mein erstes Tocotronic-Lied gehört. Ich weiß nicht mehr, welches Auto es war, aber ich weiß noch das Lied: "Letztes Jahr im Sommer". Tocotronic hatten es nicht leicht. Es war ein August ohne Wolken, die Fenster im Auto waren immer offen und aus den Lautsprechern leierte Dirk von Lowtzow: "Jeder Tag fängt mit Regen an." Das Mädchen, das das Mixtape aufgenommen hatte, hatte Tocotronic zwischen Frank Zappa und die Boomtown Rats gepackt. Dirk von Lowtzow sang: "Und ich / frag mich schon / ob hier was nicht stimmen kann." Wir haben die Kassette ziemlich oft gehört. Es ist wahrscheinlich nicht das beste Lied von Tocotronic. Aber für mich war es eine Offenbarung, als Dirk von Lowtzow sang: "Es ist klar / ich kenn jetzt 'ne ganze Menge Leute / doch irgendwann / ging's mir besser schon als heute." Seither war ich auf sehr vielen Tocotronic-Konzerten. Das Lied haben sie dort nie gespielt. Obwohl ich bei jedem Auftritt, irgendwann in einer Pause zwischen zwei Liedern, rufe: "Zum Beispiel letztes Jahr im Sommer!"
Um mich herum gab es nur Felder, die mit Gülle gedüngt wurden, Bauernhöfe, Traktoren, sehr viele Kühe, zwei Plastikfabriken. Wer ins Nachbardorf fahren wollte, musste den Busfahrer auf dem Handy anrufen. Dort gab es eine Attraktion: Der Pizzaservice belohnte eine Stunde Kartons-Knicken mit einer Margherita. Jedes Wochenende war in einem Landjugendheim "Frei Saufen Party". Dass man anderswo auch jedes Getränk einzeln zahlen und an der Tür nach dem Ausweis gefragt werden kann, sollte ich erst viel später erfahren. Trotzdem war ich wütend. Und da dort, wo ich lebte, Hamburg oder Berlin ohnehin fern waren, entdeckte ich im Jahr 2002 "Freiburg". Ein Lied, das sich wunderbar mit dem Taschenmesser in Schulbänke ritzen ließ: "Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse" in Bushaltestellen, Toilettenwände, CDU-Plakate. Drei Jahre später bekam ich einen giftgrünen Polo mit Kassettendeck. Jetzt konnte ich über Güllefelder fahren und zornige Musik hören, aber ich war bald nicht mehr in der Stimmung. Ich konnte ja wegfahren, drei Stunden Autobahn kamen mir nicht lang vor. Heute ist es umgekehrt: Ein paar Stunden bevor die Plastikfabriken am Horizont auftauchen, stimmt mich "Freiburg" auf die Felder, die Kühe, den Güllegestank ein. Wenn es gut läuft, werde ich sogar ein bisschen zornig.
Als das Lied "Meine Freundin und ihr Freund" 1995 erschien, ging ich in die fünfte Klasse und hatte noch keine Ahnung, dass ich eines Tages Tocotronic-Fan und Filmkritiker werden würde. Was das eine mit dem anderen zu tun hat, fasst dieser Song aber perfekt zusammen. Als Kinosüchtling habe ich früher mein gesamtes Taschengeld Woche um Woche für Blockbuster-Filme ausgegeben. Den komischen französischen Filmkunstkram, der in der Zeitung besprochen wurde - der war was für alte Spießer. Als ich älter wurde, kamen zur exzessiven Filmsucht noch ein paar andere Probleme hinzu, mit blonden Haaren und blauen Augen zum Beispiel. Über die hat mich dann nicht nur die neu entdeckte Band Tocotronic hinwegtröstet, sondern auch dieser komische französische Filmkunstkram. In "Meine Freundin und ihr Freund" besingen Tocotronic meine Entwicklung: "Und im Leben geht's oft her wie in einem Film von Rohmer / Und um das alles zu begreifen wird man was man furchtbar hasst, nämlich Cineast / Zum Kenner dieser fürchterlichen Streifen."
Bis dieses Lied in mein Leben schrammelte, hatte ich am liebsten französische Chansons gehört und Norah Jones. Ich war 16 und pubertärer Zorn kam, zumindest in meiner musikalischen Lebenswelt, nicht vor. Das aggressive Stakkato aber, in dem Dirk von Lowtzow "gehndieleuteaufderstraßeigentlichabsichtlichsolangsam" brüllte, rührte mich merkwürdig an. Das war ein fremder, aber dunkel verheißungsvoller Gedanke: dass man seine Wut, so ungerecht sie auch sein mochte, einfach mal rausschreien kann. Dass sie es wert ist, in Worte gefasst zu werden. Denn er hatte ja Recht: Genauso klingt es im Kopf, wenn man am Samstagnachmittag durch die Fußgängerzone geht. Die Ungeduld wächst mit jeder Sekunde, die man einem schlendernden Menschen fast gegen die Ferse tritt. Wächst an zu einer schmerzhaften Wut, die sich irgendwann mit einem Rempeln Bahn bricht. Es gibt kein Lied, das ich öfter im Kopf singe als dieses.
Tocotronic haben mich mit deutschsprachiger Musik versöhnt. Sie haben mir gezeigt, dass man über das Leben, die Liebe und all diese verwirrenden Dinge auch ganz unpeinlich auf Deutsch singen kann. Ohne Deutschtümelei. Und im Konjunktiv. Wie in "Die neue Seltsamkeit" vom Zwischenwerk "K.O.O.K.": Dirk von Lowtzow auf dem Weg vom Parolen-Texter zum Kryptiker. Tocotronic verrätseln ein Lebensgefühl. Ein Song mitten ins Herz der aufgeräumten Neubausiedlung. Ein Song gegen die Gemütlichkeit im eigenen Leben - viel mehr noch als "Aber hier leben, nein danke" ein paar Jahre später. "Die neue Seltsamkeit" ist die ungewisse Übergangsphase, in der Musik der Band und im eigenen Leben. "Man habe vorsorglich schon mal Geld gespart und für Donnerstag den Verein abgesagt." Und ja nicht den Hund vergessen. Nach diesem Song muss sich etwas ändern. Schluss mit dem Leben im Konjunktiv.
Ein blaues Nichts weht durch "Vier Geschichten von dir". Blau wie der Himmel, unter dem sich die beiden "irgendwann im Mai" treffen. Blau wie die Stunde, so stellt man sich das jedenfalls vor, in der sie "einfach zu zweit" rumsaßen, ohne "Sitzgelegenheit". Und das Blues-Blau natürlich, diese elegische Stimmung. Damals, als ich dieses Lied, vermutlich zu oft, gehört habe, bestand natürlich eine gewisse Nähe zu meiner Stimmung. Das ganze Stück ist Negation. Wenn das Ich und das Du sich sehen, passiert: nichts. Oder zumindest "nicht viel", wie Dirk von Lowtzow mit schnarrendem Phlegma singt. Dann sehen sie sich nicht und in der Zeit, in der die Zeit so erschütternd schnell verflogen ist, passiert auch nichts - nicht einmal eine Begegnung. Zwischen den Strophen erheben sich scheppernd die Instrumente, man schöpft Hoffnung, dass da doch noch etwas geschieht. Vergeblich. Es sind eigentlich keine Geschichten, daher der sinnige Irrwitz des Titels. Und deswegen war das Lied damals eine Wand zum Anlehnen. Das eigene Leben verlief ja auch weitgehend frei von Berichtenswertem. Sitzgelegenheiten waren zwar durchaus vorhanden, aber da saß er nicht drauf.
Dieser einzelne Ton reicht, um den Unterschied zu erklären zwischen schlechter und guter Musik: Immer wieder dieses G, das Dirk von Lowtzow in "Sie wollen uns erzählen" rhythmisch aus seiner Mundharmonika pustet. Erst diese euphorisch-gleichgültige, dämliche Ein-Ton-Melodie im Refrain gibt der Idee des Liedes seine Form, diese unverschämte Verschämtheit, die Tocotronic damals so gut machte. Die Melodie ist eben nicht virtuos. Sie ist nicht raffiniert. Sie ist - für dieses Lied - einfach richtig. Diese bauchgefühlte Richtigkeit suche ich in jeder Musik, seit ich mir das Album "Es ist egal, aber" 1997 kaufte. Meine Schwester fragte mich damals geradezu verzweifelt, ob ich für dafür echt 30 Mark gezahlt hatte. Ja. 30 Mark von meinem Taschengeld, für dilettantisch gespielte Billigkeyboards, verstimmte Gitarren, mülliges Schlagzeug, aufgenommen mit mehr Schwermut als Verstand in einer umgebauten Scheune in Frankreich. Aber diese heisere Mundharmonika ist mehr wert als jedes Gitarrensolo, jedes Steinwayflügelgeklimper, jedes dummsoulige Gesäusel. Für ein perfektes Lied kann es reichen, einfach wie Dirk von Lowtzow in eine Mundharmonika zu seufzen.
Eigentlich müsste wohl "Vier Geschichten von dir" (1997) bei mir an erster Stelle stehen. Aber das hat mit irgendeinem längst überwundenen Liebeskummer zu tun. Also egal. Viel nachhaltiger wirkt bis heute die Energie von "Michael Ende, du hast mein Leben zerstört" (vom Album "Nach der verlorenen Zeit", 1995). Da hatte man wohl irgendwo tief im Innern gemeint, mit Jim Knopf und Momo und der Unendlichen Geschichte sei man als Kind der Siebziger- und Achtzigerjahre bestens aufs Leben vorbereitet worden, utopisch, zeitkritisch, fantasiemäßig. Und dann kam aus schleppenden, bleischweren Gitarren heraus diese total haltlose, herausgeschrieene Anklage an den armen Kinder- und Jugendbuchautor: "Mit den Eltern aller Schichten / willst du uns vernichten." Dieser Song macht immun gegen kulturellen Konsens. Eines der verzweifeltsten und zugleich lustigsten Lieder deutscher Sprache.
Der Glühwein war noch nicht im meinem Kopf angekommen, die Plätzchen erfüllten den Raum mit einem betörenden Duft, die letzten Takte von "Stille Nacht" waren gerade verklungen. Bescherung. Ein mittelgroßes, leichtes Paket. Zum Vorschein kam ein von Schlitzen durchsetztes Halbrund. Stahlgrau. Am Rand geschmückt mit: man könnte es Ralleystreifen nennen. Dunkelblau und rot, das Logo des Herstellers eher dezent. Ein Fahrradhelm, wie Fahrradhelme 2007 ausgesehen haben. Bei weitem nicht das hässlichste Modell. Meine Eltern schauten mich, den damals 29-jährigen Sohn mit einem "Das ist doch mal ein sinnvolles Geschenk"-Blick an. Ich lächelte. Und sagte: "Pure Vernunft darf niemals siegen." "Pure Vernunft darf niemals siegen" vom gleichnamigen 2005er Album ist ein romantisches Manifest. Eine Hymne gegen die reine Effektivität und das Dienstleistungsdenken: undiszipliniert gegen die Kälte des reinen Pragmatismus, für den Humor ("Lallalalalala"), für das Versponnene und für den kollektiven Wahnsinn. "Wir sind so leicht, dass wir fliegen." Es ist ein großer Song, der auch Leben retten kann. Ein Fahrradhelm ist zur Illustration des Gesagten gleichzeitig das schlechteste und beste Beispiel. Meine Eltern bestanden jedenfalls nicht darauf, dass ich den Helm nach München mitnehme.
Ich war nie ein herausragender Gitarrist, und mein Akkordfolgengedächtnis ähnelt dem Akku eines iPhones: Wenn es nicht regelmäßig aufgeladen wird, ist es nach spätestens zwei Tagen leer. Ich spiele mittlerweile so selten Gitarre, dass ich das meiste vergessen habe, was ich mal konnte. Aber eine Akkordfolge werde ich vermutlich noch in 60 Jahren auswendig können: G/Am/F/G/Am/F (und so weiter) - die Akkordfolge von "Du bist ganz schön bedient". Ich habe das Lied sehr oft gespielt früher. Es war mein Joker für Momente, die für Jungs zwischen 15 und 20 manchmal spielentscheidend sein konnten: wenn irgendwo eine Gitarre an einem Lagerfeuer herumgereicht wurde und jemand sagte: "Spiel doch mal was". Erstens ist das Lied so simpel, dass ich es auch noch vortragen konnte, wenn ich mit dem Geradeausgehen schon Probleme hatte. Zweitens bringt es alles mit, was an einem Lagerfeuer Mädchen beeindruckt: ein bisschen Melancholie in der ersten Strophe ("Womit hab ich das verdient / hab ich mich gefragt"), und bisschen Selbstironie und Verwegenheit in der zweiten ("Vielleicht hab ich mich blamiert / als ich betrunken war / ich glaub, es ist mir schon passiert / schon 10.000 Mal dies' Jahr"), beides unterstützt von diesem in Kopfstimme gesungenen Aaaah am Schluss der Zeile, das den Text noch mal unterstreicht. Und, ganz wichtig, eine Portion Romantik im Refrain ("Alles, was ich sagen will, ist / Halt zu mir"), die sich mit Pathos in den Sternenhimmel singen lässt. Hoffentlich sitze ich bald mal wieder an einem Lagerfeuer.
Ein einziger Hauptsatz. Und dann diese 25 Zeilen voller Nebensätze. Sie breiten sich langsam aus, deuten an, rudern zurück, und erzählen von Zweifel, Enttäuschung und Resignation. Es gibt keinen Refrain in dem Song, keine Strophe, es gibt auch kein laut und leise, das Lied "Ja" hat nur einen Tonfall: die Unbestimmtheit. Der Hauptsatz lautet: "Es stimmt uns unendlich traurig", und das fügte sich noch perfekt in den Kosmos, den Tocotronic damals eröffnet hatten. In den ersten vier Alben ging es um Gefühle. Wut natürlich, Hass, aber auch Einsamkeit, Verwirrtheit, Unsicherheit. "Ja", das war der Vorbote des fünften Albums, die B-Seite der ersten Single. "Es stimmt uns unendlich traurig", so weit passte das noch zu der Band, die ich kannte. Aber dann. Alles blieb im Vagen. Der Text hatte nichts Sloganhaftes mehr, nichts, was man laut mitsingen oder auf ein T-Shirt drucken wollte. Man kann nicht einmal einzelne Zeilen daraus zitieren - keine funktioniert ohne die anderen. Ich habe dieses Lied 1999 hundertmal gehört, habe Thomas Bernhards gleichnamiges Buch gekauft in der Hoffnung, das Lied dadurch besser zu verstehen. Es wunderte mich nicht, dass es darin um Selbstmord geht. Und dass der erste Satz des Buches drei Seiten lang ist. Erst zwei Jahre später hat Dirk von Lowtzow in Worte gekleidet, was die 1999er-Single mit diesem Ungetüm in 26 Zeilen als dritter B-Seite schon vorweggenommen hat: "Eines ist doch sicher: Eins zu eins ist jetzt vorbei."
Wir rührten den Caipirinha beidhändig in einer Leonardo-Blumenvase zusammen, drückten die Korken in die Zwei-Euro-Rotweinflaschen und warteten nicht, bis die Alufolienkartoffeln in der Restglut wirklich komplett durch waren: Es war Abisommer. Die Laptop-Lautsprecher knirschten und standen wackelig im Friedrichshain-Staub, und erwachsen sein wollten wir auf gar keinen Fall, also sprangen wir in der Dunkelheit von den Kletterfelsen. "Haaaaiiii Freaks, looook ät miiiiii!", plärrten wir dabei, viel, viel lauter als der Laptop es konnte. Tocotronic-Lieder sind nicht gerade die, die sich am einfachsten von einem Kletterfelsen plärren lassen, aber wir hatten sie verstanden. Wie man Tocotronic-Lieder halt versteht: die schönen Worte irgendwo zwischen Zungenspitze und rechter Hirnhälfte zergehen lassend, sie nicht bis zum Ende denkend, weil das das große, undefinierte Gefühl von warmer Wut und Traurigkeit im Bauch kaputtmachen würde. Wir wussten, das war unser letzter Sommer, in dem wir so im Friedrichshain herumhängen konnten, und fühlten uns torschlusspanikartig revolutionär. Vom "sogenannten Realismus" sangen wir also und davon, dass das Geschehen uns auseinandergehen lässt, "hinein in einen Wald aus Zeichen". Anke hat sich dann beim Sprung vom Kletterfelsen ein bisschen den Fuß verknackst. Sie trank dafür einfach mehr Wein aus der Flasche und war für den Rest des Abends für die Playlist zuständig, immer wieder zurück skippend, bis wir das undefinierte Gefühl nicht mehr ertrugen und stattdessen "Dickes B" hörten.