Was diese Nähe alles freilegt. Bei diesem Coldplay-Konzert fühlt es sich eher an, als würde man neben den Stimmbändern von Chris Martin sitzen und mit einer knappen Armlänge Abstand - das Video ist von Mitte März, da ging das gerade noch in Ordnung - zusehen, wie sie sich anspannen, mühsam schon und dann trotzdem noch etwas mehr. Wie sie zittern vor Anstrengung. Die Stimme ist da längst in diesem kritischen Bereich zwischen Brust- und Kopfstimme, in dem sie entweder noch mehr Kraft braucht oder, mit etwas Pech, verzagt brechen wird.
Man kann also fast fühlen, wie das Gehirn des Sängers jetzt nachjustiert: Wie viel mehr kann ich dem Apparat zumuten? Und wie es dann umdisponiert, den hohen Ton liegen lässt, den "Viva La Vida", diese cumuluswolken-bauschige Weltherrschaftshymne, an dieser Stelle eigentlich verlangt, an der die Streicher und die Chöre in der Originalversion längst im Superbreitformat anbranden. Und wie es dann eine Terz tiefer stapelt, die Gefahr umtänzeln will, ganz leicht stolpert, sich aber natürlich fängt, Martin macht das alles schließlich nicht zum ersten Mal. Er macht es nur zum ersten Mal seit Langem wieder so ungeschützt. Dann: Entspannung, lockeres Ausklingen, durchatmen.
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Wie übertrifft man schwindelerregende Groove-Könnerschaft und ein aufrechtes Soul-Herz? Thundercat zeigt es. Yves Tumor revolutioniert indes den Pop - mit Musik für gequälte Seelen.
Wie verletzlich Mainstream-Pop doch noch sein kann. Wenn es nicht die Originalversion sein muss. In einer grandiosen Folge auf dem Youtube-Kanal "Tiny Desk Concerts".
So entstanden einige der denkwürdigsten Popkonzerte der vergangenen Dekade
Der Pop bekommt sonst ja so leicht ein Größenproblem, zumindest dort, wo versucht wird, live möglichst originalgetreu zu reproduzieren, was mit größtem technischen Aufwand auf ein Album gepackt wurde. Coldplay sind in dieser Beziehung normalerweise sehr verdächtig, deshalb lässt sich die Großartigkeit der "Tiny Desk Concerts" an ihnen auch so gut erkennen. Coldplay-Konzerte in Fußballstadien sind sehr Überforderungsspektakel. Aber sie sind, weil von allerlei Computerunterstützung getragen, auch eine Konservenschlacht. Alles hochkomprimiert. Überall Kraft und Makellosigkeit und Breite. Immer "Wall of Sound".
Aber jetzt ist da, wo sonst riesige Aufbauten sind, einfach nur eine Regalwand, vollgerümpelt mit Büchern, Platten und allerlei buntem Plastikspielzeug. Ein paar Mikrofone stehen im Raum und ein Keyboard, der Gitarrist Jonny Buckland und ein kleiner Gospelchor, dessen Klang die Seele vom ersten Ton an reinigt.
Das Format des amerikanischen Sender National Public Radio (NPR) ist - es lohnt sich vielleicht, das zu betonen, weil in diesen Tagen ja doch sehr viele Menschen mit Instrumenten vor Kameras und Mikrofonen stehen - die Mutter aller Heimkonzerte. Oder nein, eher die große Schwester. Irgendwer mit großer popkultureller Autorität jedenfalls.
Natürlich gibt es inzwischen auch erste Quarantäne-Home-Versionen - von Soccer Mommy etwa oder von Michael McDonald. Das eigentliche Konzept der Shows geht aber so: Die eingeladenen Künstler spielen am Schreibtisch von Bob Boilen, Moderator der Sendung "All Songs Considered", ein paar Songs. Oft in akustischen, fast immer in ungewöhnlichen, weil reduzierten Arrangements. Und das Ergebnis sind ein paar der denkwürdigsten Live-Auftritte der vergangenen gut zehn Jahre. Kaum ein Format zoomt die Musik näher heran.
Die Legende will es, dass Boilen und der NPR-Musikredakteur Stephen Thompson die Tiny-Desk-Konzerte erfanden, als sie frustriert von einem Club-Konzert kamen. Die Folk-Sängerin Laura Gibson hatte gespielt - vermutlich. Wirklich hören konnte man es wegen des Gebrabbels und Geraune des Publikums nicht, also kam der Witz auf, Gibson solle das nächste Mal besser am Schreibtisch (also dem "Desk") von Boilen spielen.
Im April 2008 war es dann tatsächlich Gibson, die das erste Schreibtischkonzert spielte. Weit mehr als 800 gab es seither. Zusammengezählt wurden sie im niedrigen Milliardenbereich geklickt. Taylor Swift hat schon am Desk gespielt und Harry Styles, Adele und Lizzo auch. Und Igor Levit, Yo-Yo Ma, Erykah Badu, Randy Newman, Chick Korea, Sting & Shaggy oder George Clinton & The P-Funk Allstars und und und. Außerdem so ziemlich jeder Indie-Folk-Prinz, der sich die Haare schon selbst zum Dutt binden kann, weshalb die Sache auch schon unter Hipster-Verdacht stand. Wer sich mal drei Tage vor Boilens Schreibtisch-Verhau verloren hat, sich also von St. Vincent zu King Krule zu Alt-J, zu Car Seat Headrest zu Wilco zu Wild Reeds zu Nathaniel Rateliff zu Conor Oberst und so weiter geklickt hat, der kann dem nicht ganz widersprechen.
Das Wunder hat auch ein profanes, aber sehr cleveres technisches Geheimnis
Aber ein bisschen schon. Und darauf kommt es an. Der Wu-Tang Clan war schließlich auch schon da. Und Mac Mille. Und die Roots, die zusammen mit dem Sänger Bilal und einer Brass-Band eine New-Orleans-Funk-Party am Tisch veranstalteten. Tyler, The Creator bellte in Club-Beleuchtung in den kleinen Raum. Wyclef Jean und Gary Clark Jr. machten, schwitzend, in unterschiedlichen Folgen sehr ähnliche Witze über zu warme Lederjacken, die man für den Swag aber nun mal tragen müsse, und wer das gesehen hat, wundert sich noch etwas mehr über Billy Corgan, der in Daunenjacke und Schal aussieht, als wolle er einen Baum fällen.
Der Pianist und Sänger Ben Folds vergaß den Text zu "Phone In The Pool" noch etwas charmanter als ein paar Jahre später der Rapper GZA den zu "Liquid Swords". Letzterem fiel er aber wenigstens noch während des Songs wieder ein. Die Dirty Projectors wirkten in Fleisch und Blut tatsächlich noch etwas verschrobener als ihre windschiefen Avantgarde-Pop-Songs ohnehin schon vermuten ließen.
Allen, wirklich allen Auftritten ist aber dieselbe Nähe gemein. Was für ein Segen in Zeiten, in denen die Konzepte von Nähe und Distanz so durcheinander sind. Wobei das Wunder auch ein technisches Geheimnis hat: Anders als bei Pop-Produktionen sonst üblich, wird nicht jedes Instrument einzeln sondern eher der Gesamtsound des Raumes aufgenommen. Herzstück ist dabei ein bestimmtes Sennheiser-Mikrofon (ein MKH 418-S, der schwarze Stab vor den Sängern), das oft bei Filmaufnahmen benutzt wird, weil es zwei Mikrophone kombiniert: Das eine nimmt auch aus einer gewissen Entfernung Sprache und Gesang noch sehr klar auf. Das andere bildet in Stereo und damit sehr räumlich und originalgetreu die restliche Atmosphäre ab.
Anders gesagt: Wie schön da selbst die größten Stars auf das schrumpfen, was ihr Schaffen in den meisten Fällen wirklich ausmacht. Wer das besonders im Pop totgerittene Wort "Authentizität" unbedingt mal wieder rauskramen will: hier wäre kein ganz schlechter Ort. Für alle anderen bleibt die ganz praktische, und vielleicht auch vorher schon erlebte, Verwirrung, was für ein Sehnsuchtsort der Schreibtisch sein kann.